Zwei Monate vor dem EU-Beitritt Rumäniens am 1. Januar 2007 geben sich Europa-Politiker in Bukarest die Klinke in die Hand. Doch was wissen sie wirklich über die Lage jenseits der prosperierenden Kapitale? Kennen sie neben Wirtschaftsdaten die Stimmung im Land - die Hoffnungen und Ängste des 22-Millionen-Volkes?
Die sieben Kilometer mit dem Bus von Medias nach Ighisul Nou fühlen sich an wie 70 - das ausgemusterte Ikarus-Gefährt der Verkehrsbetriebe Wolfen zittert dröhnend durch die Landschaft und unzählige Schlaglöcher. Der Bürgermeister von Mediasch, einer kleinen Industriestadt in Siebenbürgen, habe versprochen, die Piste im Oktober asphaltieren zu lassen. Nur ein Jahr habe er nicht genannt, meint resigniert mein Nebenmann. Versprechungen
n. Versprechungen sind die Rumänen gewöhnt, die nächste große gilt dem 1. Januar 2007, wenn der langjährige Aspirant zum Vollmitglied der EU aufsteigen soll.Ansichtskarten aus ItalienTrotz aller Unwegsamkeiten fährt der Bus pünktlich in Ighisul Nou ein. In den frühen neunziger Jahren traf die Gemeinde der große Exodus, die meisten Rumäniendeutschen zogen nach Deutschland in eine vermeintlich bessere Zukunft. Ihrem Eibesdorf - wie Ighisul Nou auf deutsch heißt - damals treu geblieben sind die Wagners, beide heute weit in den Siebzigern. Mit der EU werde sich für sie nicht viel ändern, EU-Bürger sei man ja schon, meint Regina Wagner und zeigt ihren deutschen Pass, den sie sich während einer Reise besorgt hat. Stefan Wagner, ihr Mann, ist Kurator der Eibesdorfer Kirchenburg, einem kulturhistorisch wertvollen Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert. Vielleicht könne der eine oder andere Euro aus Brüssel dieser architektonischen Rarität von Nutzen sein, hofft er.Beide beklagen die drastischen Preisschübe der zurückliegende Jahre, für die sie stets die Begründung hörten: Man müsse Auflagen aus Brüssel erfüllen. Allein der Gaspreis stieg dermaßen, dass im Winter die Rechnung oftmals höher ausfiel als die monatliche Rente von 630 Lei (etwa 180 Euro). Gäbe es nicht die Unterstützung des in Deutschland lebenden Sohnes, sähe es für beide prekär aus. Zwar haben sie etwas Acker hinterm Hof und sind weitgehend Selbstversorger, doch allein für Medikamente und Energie müssen sie zu viel von ihren Einkünften verbrauchen.Nachbar Gheorge Bisa, der den Wagners manchmal zur Hand geht, ist für die Rente noch zu jung und zu alt, um mit 52 wieder eine Arbeit zu finden. Er habe fast 25 Jahre in einem Metallbetrieb in Mediasch gearbeitet, erzählt er, nach der Entlassung noch etwas Arbeitslosengeld bezogen und danach nichts mehr. Da er ein Pferd und ein windschiefes Haus besitzt, dem der Regen langsam, aber sicher den Kalkanstrich abwäscht, gilt er nicht als "völlig mittellos" und kann daher keine Sozialhilfe beantragen. Folglich überlebt Bisa mit eigenem Hof und eigenem Fuhrwerk, womit er außer sich selbst noch drei Personen zu versorgen hat. Die beiden Töchter verschlug es vor zwei Jahren auf Arbeitssuche nach Italien. Für ihre bei den Großeltern in Ighisul Nou zurück gelassenen Kinder wollten sie regelmäßig Geld schicken. Angekommen seien bisher nur Ansichtskarten, lächelt Bisa. So lebe man eben von Tag zu Tag und von Winter zu Winter, irgendwie gehe es immer weiter. "Wir sind und bleiben arme Leute, daran wird Europa nichts ändern." Glücklicherweise müsse er für die Kindergartenplätze der beiden Enkel nichts bezahlen, die seien in Ighisul Nou noch immer kostenlos.Etwa zwei Millionen Rumänen haben ihrer Heimat seit 1990 den Rücken gekehrt, zumeist junge, gut ausgebildete Weltensucher, die wegen der Sprachverwandtschaft vorrangig nach Spanien und Italien ausgewandert sind. Die Regierung in Bukarest dokumentiert in ihren offiziellen Bulletins eine Arbeitslosigkeit zwischen sieben und acht Prozent, tatsächlich liege die Quote, sagen die EU-Berater, bei 40 und mehr. Wer diese Zahlen liest, sollte sich vor Augen halten, dass es in Rumänien maximal zwei Jahre Arbeitslosengeld gibt, danach noch ein Jahr Sozialhilfe in einer Größenordnung von umgerechnet zehn Euro.Die Roma in SiebenbürgenAuf dem Pfarrhof der evangelischen Kirche von Ighisul Nou treffe ich Ambrosie Burnette. Der 58-Jährige arbeitet in einem Gasunternehmen und liegt mit 1.225 Lei (350 Euro) deutlich über dem Durchschnittseinkommen von 840 Lei (240 Euro). In zwei Jahren beginne sein Ruhestand, damit er den überlebe, meint Burnette sarkastisch, verdiene er sich schon jetzt und später erst recht als Imker einige Lei dazu. Sein Honig sei besser als der in Deutschland, er mische schließlich keine Zusätze aus China oder Südamerika bei oder gar Zucker. Vor den strengen EU-Normen bei Lebensmitteln brauche er mit seinem erstklassigen Produkt jedenfalls keine Angst zu haben.Dennoch würden vom EU-Beitritt nicht Leute wie er, sondern allein die rumänischen Politiker profitieren. Die Bemerkung bezieht sich wohl auch auf die vielen Korruptionsskandale, die das Land in jüngster Zeit beschäftigt haben, wenn manch hochdotierter Politiker wegen Bestechlichkeit gehen musste, nicht zuletzt Premier Adrian Na?stase, den eine solche Affäre straucheln ließ. Im Sommer ergab eine Umfrage der "Ständigen Delegation der Europäischen Kommission in Bukarest", zwei Drittel der Rumänen rechneten nach dem Januar 2007 erst einmal mit einen Verfall ihres Lebensstandards - mehr als die Hälfte sehe im politischen Pluralismus keinerlei Vorteil, selbst die Möglichkeit, künftig ohne Visum ins Ausland reisen zu können, begrüße nur ein Drittel der Befragten.Trotz dieses Bangigkeit sei ein Großteil seiner Gemeinde Ighisul Nou für die Europäische Union, glaubt der orthodoxe Priester Nicolae Cretzu. Der Mittvierziger wirkt in Poloshirt und Arbeitshose eher wie ein Bauer. Wir kommen denn auch bald auf die Landwirtschaft zu sprechen - die Landwirte in der Gegend erhofften sich Beistand aus Brüssel, sie brauchten moderne Technik, um dem guten Boden Siebenbürgens höhere Erträge abzuringen, meint Cretzu.Und dann dürfe man auch die Roma nicht vergessen (sie heißen in Siebenbürgen ohne jeden Unterton noch Zigeuner), von denen es in Rumänien etwa zwei Millionen gäbe. Bei vielen, so der Eindruck des Priesters, fehle der Wille, sich eine eigene, menschenwürdige Existenz aufzubauen. Es gebe zwar staatliche Programme, aber was nütze es, wenn die nicht in Anspruch genommen würden. Land sei genug da, man müsse es nur bewirtschaften. "Vielleicht wird die EU-Mitgliedschaft gerade den Zigeunern helfen."
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