Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz liefert eine Kolumne in alchemistischem Gewand. Dem Stein der Weisen gleich ist sie als mannweibliches Doppelwesen zu lesen
Sage einer, selbstbewusste Frauen seien noch nicht lange her! Diese ist 1630 geboren und 1714 gestorben. Als sie 50 war und durch Tod, Krankheit und abwesenden Gatten (!) in einer Krise steckte, hat sie ihre Memoiren geschrieben. Ein Glücksfall. Auch, dass sie auf Französisch, das sie bestens beherrschte, und nicht in ihrem horriblen Deutsch schrieb. Zwar wurden sie dadurch erst sehr spät entdeckt, doch jetzt sind die Memoiren gut übersetzt in einer rundum sorgsamen Ausgabe zu haben, ein Vergnügen! Die Kurfürstin Sophie von Hannover kam aus erstem Hause: die Mutter eine Enkelin Maria Stuarts, der Vater Kurfürst von der Pfalz. Erzogen wurde sie in Leiden und Den Haag, eine höchst kluge und lebenskluge Calvinistin. Erstaunlich modern wirken i
n. Erstaunlich modern wirken ihre geschulte Fremd- und Selbstbeobachtung, ironische Distanz und listige Logik. Spitz ist sie auch: Der Erste, der ihr Avancen machte, hat ein Kinn „wie ein Schuhlöffel“, da ist sie froh, dass Georg Wilhelm von Hannover sich interessiert. Doch in Italien verfällt der einer Kurtisane, „die nichts Schönes an sich hatte außer ihren Kleidern“. An seiner Statt schickt er den jüngeren Bruder Ernst August. Die Ehe wird insgesamt glücklich, auch wenn es den Älteren plötzlich doch jückt … Es wird intrigiert, ver- und entkuppelt, dass das wie ein Prequel von Verbotene Liebe wirkt – nur etwas stilvoller.Thomas Mann, der gern lobte, nannte sie zu ihrem 60. Geburtstag die gegenwärtig wohl erste Frau Europas. Zweifellos war sie eine Europäerin, liberal, welt-offen, unerschrocken und ungemein gebildet. Obwohl Ricarda Huch einige Zeit als Bibliothekarin arbeitete, war, was sie schrieb, nicht von bibliothekarischer Gelehrsamkeit, sondern höchst lebendig und packend. Als Frauen ihres Jahrgangs, 1864, in Deutschland nicht einmal studieren durften, wurde sie in Zürich in Geschichte promoviert. Über Geschichte hat sie unablässig geschrieben; über die italienische Epoche des Risorgimen-to zum Beispiel, über den russischen Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin, vor allem aber über deutsche Geschichte, über die Romantik, die Revolution 1848/49 und monumental über den Dreißigjährigen Krieg. Als die Nazis ihre Kollegen aus der Akademie der Künste warfen, trat sie protestierend aus. Die folgenden Jahre verbrachte sie, im Kontakt mit dem Widerstand, in Jena, wo sie 1946 die Ehrendoktorwürde erhielt. 1947 ist Ricarda Huch gestorben. Mehr als ein Dutzend Gymnasien tragen heute ihren Namen. Die Biografie von Katrin Lemke ist leider nicht mit der Sprachmacht ihres Vorbilds gesegnet. Dennoch liest man eine höchst informative, breit fundierte und auch gut bebilderte Biografie dieser wahrlich beeindruckenden Frau.1987 hatte die Graupantherin Trude Unruh im Essener Klartext Verlag einen Band herausgegeben, in dem die Trümmerfrauen gefeiert und die mangelnde finanzielle Kompensation beklagt wurde. Ideelle Anerkennung hingegen gab es schon früh. Reden, Gedenktafeln und Statuen priesen die Gewährleisterinnen des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs. Noch immer kaum eine Fernsehdokumentation der unmittelbaren Nachkriegsjahre, in die nicht Sequenzen der backsteinsichernden Frauenketten hineingeschnitten sind. In letzter Zeit wird jedoch am Denkmal gerüttelt. Sie seien nur eine Erfindung, um die bundesdeutsche Schuld zu kaschieren. In einer voluminösen Untersuchung im nämlichen Klartext Verlag geht nun Leonie Treber der Frage nach, wie die Geschichten um die Trümmerfrauen zustande kamen. Nicht regelrecht Erfindung, aber doch ein stark aufbauschender Mythos, lautet ihr Ergebnis. Es hat die Trümmerfrauen zweifellos gegeben, aber keineswegs in dem Maße, das zum Wiederaufbau nötig gewesen wäre. Statt händischer Frauenarbeit war es meist professionelles Großgerät, das den Boden des Wirtschaftswunders freilegte. Allerdings, so zeigt sie anhand der Presse der unmittelbaren Nachkriegsjahre, wurde da bereits das Bild der tapferen Trüm-merfrauen gezeichnet. Besonders im Osten. Mein Lieblingsbild: Wie die Gattin Otto Grotewohls in einer Backsteinkette steht – mit Handschühchen freilich.Die Kurdin Aliyah liebt einen Christen, der obendrein Grieche ist. Sie versteckt sich, denn die Familie verfolgt sie. Auch andere, die darin eine „Ehre“ beschmutzt sehen. Die Jungs, wollen sie nicht Verräter und „Opfer“ sein, müssen mitmachen. Andere, wie die Autorin Güner Balcı, versuchen Aliyah nach Kräften zu helfen. Das ist äußerst schwierig. Denn immer wieder werden in ähnlichen Fällen geheime Daten weitergegeben, teils erpresst, teils aus Nachlässigkeit, einmal sogar, weil die Schwester der dann ermordeten Arzu in der Verwaltung arbeitete. Unprätentiös wirkt diese exemplarische Falldarstel-lung, in die viele weitere miteingewoben sind, etwa von Cidgdem, die von ihrem Mahmoud, weil sie ungern Analverkehr haben wollte, vergewaltigt und zur „Hure“ gemacht wurde. Alle diese Geschichten stimmen wenig optimistisch. Andererseits macht es Hoffnung, dass diejenigen, die sich für veränderte Verhältnisse einsetzen, mehr werden. Doch Güner Balcı schreibt auch: „Wer Angst vorm Islam hat, weil er in ihm, so wie er auch in Deutschland von Verbandsfunktionären und Imamen gelehrt wird, einen Angriff auf die freiheitlichen Grundrechte und vor allem einen großen Widerspruch zur Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sieht, der hat durchaus Grund dazu.“Placeholder image-1Herrenrunde:Otto Braun war unter den Sozialdemokraten ein Riese. Auch körperlich: eins neunzig in der Höhe und von massiver Breite. Und so war er auch politisch: kaum umzuwerfen. Ostpreuße, Sohn eines ärmlichen Schuhmachers, Steindruckerlehrling, sozialdemokratischer Redakteur, Stadtrat in Königsberg – und dann, von 1920 bis 1932, mit zwei kurzen Unterbrechungen, Ministerpräsident des Freistaats Preußen. Keine rhetorische Begabung, aber nüchtern, pragmatisch und entschlossen. Linker Sozialdemokrat und preußischer Ordnungsdenker, Boden- und Schulreformer. Ach, hätten wir … „Braun soll unser Führer sein“, textete 1925 die SPD, als der bei der Reichspräsidentenwahl immerhin knapp 30 Prozent holte. Später notgedrungen Notverordner, wofür Kommunisten und Nazis ihn verbal knüppelten. 1932 hebelte der Reichskanzler der Junkerregierung, von Papen, die rechtmäßige Preußenregierung aus und übernahm die Herrschaft über Preußen. Der „Preußenschlag“ ist seither immer wieder von Historikern diskutiert worden. So auch in diesem Sammelband über Otto Braun, über den man zunächst einmal sagen kann: Gut, dass es ihn gibt. Weniger gut ist manch Disparates darin, auch etwas abituraufsatzhaft, etwa über sein Verhältnis zur Presse oder das der Weltbühne zum Preußenschlag. Ausgerechnet einem Beitrag über den leidenschaftlichen Jäger Braun gelingt es besonders überzeugend die Person und die Zeit zu konturieren.Beim neuesten Sampler von Wiglaf Droste muss man mindestens Folgendes in Kauf nehmen: Sprachkreativität-von-Friseuren-Beschimpfung, André-Brie-für-einen-Schwätzer-Haltung und pazifistische Verstopfung à la „Alle Soldaten sind Möahdaah!“. Ist man dazu bereit, dann finden sich darin so viele wohlgestaltete Lebensweisheiten und krisensichere Preziosen eines reichlich perlenden Wortschatzes („Freudig nahm ich schöne neue Wörter entgegen“), dass man das linkspubertäterzielgruppenspezifische Verachtungsdicketun als ein zusätzliches Stilmittel des abwehrenden Grobianismus einer zarten, von einfach zu viel Zieh- und Zielgruppenblödheit gemarterten Seele erkennt und Sätze wie diesen laikt, liket? Merkt!: „Man kann Geschichte als Stauraum auffassen, als einen Ort, an dem man … noch etwas herumliegen hat, oll, staubig, spinnwebig.“ Oder Wörter wie Kreuzköllner „alteregoistisches“ „Trottoirtrottelvolk“ und dergleichen mehr. Schließlich unschlagbar: „Naivität ist die schönste Form von Intelligenz.“ Und Handreichung über den Tag hinaus ganz bestimmt das Folgende: „Während das Bürgertum immer peinlichere Formen der Zwangsjugendlichkeit entwickelt, sind die wahren revolutionären Subjekte mit dem Rollator unterwegs.“Ein – nach eigenem Bekunden – geborener Berliner haut einem gleich beim ersten Wort eine rein: „Samstag“, statt des korrekten Sonnabends! Kann man dem trauen? „Ich lebe hier schon so lange, ich beobachte alle, das mache ich nicht absichtlich“, der Typ, der das zum Autor sagt, jedenfalls glaubt ihm nicht, dass der in Lankwitz aufgewachsen ist. Nicht einfach, ein einheimischer Stadtbeobachter zu sein! Doch wo man hingehört oder nicht wohnen sollte, das weiß man. Wer von der Fuldastraße nach Friedenau gezogen ist, dem hilft auch nicht, dass er’s der Kinder wegen tat. Björn Kuhligk ist ein Meister der Kürzestkolumne, auch wenn er zwischendrin mal ausführlicher anhebt. Miniaturszenen aus dem Leben eines, der Sohn, Tochter und irgendwie schreibende Freunde hat, nicht unbedingt so erwachsen werden will, wie er schon ist, und dessen Rasierwasser manchmal Schultheiß heißt. „Ach ja, meine Heimat, denke ich [...] und ich bin so hunde-müde an diesem Morgen, sonst würde ich so etwas nicht denken […]. Ich denke, Heimat, das sind immer die anderen. Die Wolken über dem Hermannplatz sehen aus wie geronnene Milch.“ Gut auch am Abend zu lesen!Äußerlich war er ja nicht gerade das Bild von einem Mann, aber der kinder-lose Immanuel Kant (1724 – 1804)wurde nicht nur zum Stammvater der abendländischen Philosophie, sondern war auch ansonsten, in seinen Denknotaten und Alltagsnotizen, ein mannhafter Geist. Sein entsprechender handschriftlicher Nachlass umfasst allein sieben Bände. Das ist von ihm keineswegs auf Aphoristikhin angelegt worden, es konnte aber nicht ausbleiben, dass scharf Gedachtes und Beobachtetes so wirkt. Man kann das nun an einem schmalen, höchlichst ansprechenden und denknahrungsreichen Band prüfen, Köche ohne Zunge betitelt. Da finden sich neben einer Kurzdefinition der Kritik der reinen Vernunft (für Blitzleser: Seite 77), Bemerkungen zur praktischen Vernunft oder einer Kritik am Sokratischen Dialog – dass er Dialog gar nicht sei, sondern bloße Belehrung – so wundersame Spekulationen wie die, dass in Religion, Staat und Wissenschaften die Cholerischen Revolution und die Phlegmatischen Reformation machen („daher sind Revolution und Reformation so selten beisammen“). Und Merksätze: „Durch das anständige Aussehen hält maneinander in Entfernung“, oder: „Mancher hat nicht einmal Mut zu großen Lastern.“ Spitze Bemerkungen: „Ob das weibliche Geschlecht wohl Weiber zu Richtern wählen würde?“ Maximen: „Nicht Weltbeschauer, sondern Weltbürger sein.“ Oder: „Das Gute könnte noch besser sein.“ Dies hier aber kann kaum besser, es könnte allenfalls noch mehr sein.Placeholder infobox-1
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