Ich gehe von Asien nach Europa. Auf der Brücke im russischen Magnitogorsk sind die Kontinente leicht sortierbar: Asien, das ist am gewaltigen Stahlkombinat zu erkennen, über dem bei Tage eine orangene Staubwolke liegt und das sich bei Nacht mit metallischem Dröhnen und Stichflammen bemerkbar macht. Europa, das ist die Stadt zum Wohnen, Arbeiterpaläste mit triumphalen Torbögen, die Stalin’sche Stahlarbeiterstadt Magnitogorsk.
Das erste Mal gehe ich bei Nacht über den Uralfluss. Am asiatischen Ende der Brücke war keine Kneipe zu finden, unwirtlich, nichts. An der Flussmitte weist nichts auf das Betreten Europas hin, nur in Richtung Asien wird man begrüßt. Das Schild, weiß auf blauem Blech, hängt hoch, unerreichbar für Souvenir-
Souvenir-Diebe. „Europa“ ist durchgestrichen, in kyrillischer und lateinischer Schrift.In der Mitte des Uralflusses erstreckt sich eine lange schmale Insel. Ich höre von dort unten ein Platschen in Wasser, ein wiederkehrendes ratterndes Aufziehgeräusch, und ich sehe ein winziges Feuer, das kleiner und kleiner wird, und zwei grüne Lichter, die von der Art der Bewegung her auf zwei hektisch hantierende Personen hinweisen. Wie waren die nur auf die Insel gekommen? Die Laternen der Brücke leuchten leicht, der Vollmond leuchtet stark, und so werfe ich einen langen Schatten auf die Gestalten. Ich frage mich, ob sie mich wohl fürchten, da ich sie so lange beobachte, oder ob nicht ich die Gestalten fürchten sollte. Wer campiert schon in kalter Nacht auf der Kontinentalgrenze vor einem Stahlgiganten? Aus einem sehr irrationalen Grund rechne ich damit, dass von der Insel auf mich geschossen werden könnte.Ohne das russische Verwaltungsgebiet Tscheljabinsk und ohne die russische Kommune Magnitogorsk zu verlassen, betrete ich Europa. Ich gehe in das Café, das der Brücke am nächsten liegt. Es ist eingerichtet mit dunklem Holz und rotgoldenen Stühlen und hat erst einige Wochen auf. Dutzende Kaffeekreationen werden angeboten, Alkohol hingegen grundsätzlich nicht. Der junge durchtrainierte Cafetier trägt einen eng anliegenden schwarzen Anzug und eine hellrote Krawatte mit goldener Nadel. Wie auch der schmale volltätowierte Kellner bewegt er sich zeremoniell, höfisch, geziert. Die Fensterscheibe hat mehrere Sprünge, offenbar versuchte sie jemand an mehreren Stellen einzuschlagen. Das Café heißt Pride. Das muss einem erst mal einfallen: Ich komme über die Uralbrücke nach Europa, das in Russland wegen des Hochhaltens von Homosexuellenrechten als „Gayropa“ verspottet wird, und was springt mich als Erstes an? Ein Schwulencafé.Gallige BeschwerdenDieses Thema ist heikel, hüben wie drüben. Als zerfiele Europa in mehrere mentale Kontinentalplatten, als könnten Westeuropäer und Osteuropäer nicht ohne heillosen Streit über sexuelle Minderheiten reden; selbst ein konservativer Westler und ein liberaler Russe kriegen sich unweigerlich in die Haare. Ich bin in Magnitogorsk, um Lesungen vor russischen Studenten zu halten. Begeistert erzähle ich den nichts ahnenden Magnitogorsker Hochschullehrerinnen vom Café Pride, und den Magnitogorsker Studenten lese ich die todtraurige Geschichte von der Euthanasie des belgischen Transsexuellen Nathan Verhelst vor. Beides wird zur Folge haben, dass eine junge Lehrerin gallige Beschwerdebriefe gegen mich verschickt, „solch superprogressives Zeugs interessiert uns nicht“.Es ist das nur einer der Brüche und Spaltungen, die Europa am Ende der Zehnerjahre zeichnen. Das ablaufende Jahrzehnt brachte drei große europäische Krisen: die Eurokrise in Griechenland, den Krieg in der Ukraine und die Flüchtlingskrise. Die Behandlung dieser Krisen auf EU-Ebene trug ansatzweise zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit bei, doch kann keine Rede davon sein, dass Europa an ihnen gewachsen wäre. Nein, alle drei Krisen hatten eine entzweiende und entsolidarisierende Wirkung.Ich erlebte diese Krisen hinter dem Eisernen Vorhang, in der slowakischen Plattenbausiedlung Devínska Nová Ves, in der ich zwölf Jahre lebte. Als „Griechenland gerettet“ wurde, wohnte ich in einer WG mit Arbeiterinnen eines Autozulieferers beim VW-Werk nebenan. Sie stellten Sonnenblendspiegel her. Hätte die Fabrik im 500 Meter entfernten Österreich gestanden, hätten die Frauen das Zweieinhalbfache verdient. Ihre Typen, ebenfalls Schichtarbeiter, waren auch meistens da. Da sie verschiedene Schichten hatten, schlief immer irgendwer, und irgendwer hielt immer das Panier-Frittier-Kontinuum aus Fritteuse, öltriefender Pfanne und Mikrowelle am Brutzeln.Meine Mitbewohnerinnen fuhren nie auf Urlaub. Auch in den zwei Wochen Zwangsurlaub, die VW jeden Sommer verhängte, hingen sie vor der Glotze. Abends leerten sie manchmal eine Flasche Slibowitz oder Whisky und spülten mit klebrigen Limonaden von Lidl nach. Im Streit um die Garantien der Griechenland-Rettung stürzte die slowakische Regierung, in meiner WG wurde nicht darüber gesprochen. Die Arbeiterinnen konnten mir nicht einmal sagen, wem die Sonnenblendspiegel-Fabrik gehörte – „wir produzieren für Deutschland“. Als sie rausgeschmissen wurden, teilte man ihnen das am Vortag mit. Sie wussten bis zuletzt nicht, für eine spanische Firma gearbeitet zu haben.Dann kam die zweite Krise, die Europa spaltete. Schon vor 2014 balancierten einige europäische Länder am Rande der Zerrüttung, schon vorher zerriss es osteuropäische Staaten zwischen Moskau und Brüssel. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine brach aber noch etwas anderes entzwei: Besonders in Osteuropa erlitten führende Medien, welche die Vorgänge in der Ukraine einseitig beleuchteten, innerhalb kürzester Zeit einen eklatanten Vertrauensverlust. Später noch einmal durch die Flüchtlingskrise befeuert, erreichten und übertrafen alternative und verschwörungstheoretische Online-Medien die Leserzahlen des Mainstreams. Der wusste sich nicht anders zu helfen, als die mythische Figur des prorussischen Trolls anzuklagen. Nicht dass es keine Trolle gäbe. Wie aber war zu erklären, dass ich die Ansichten des prorussischen Trolls tagaus, tagein in allen meinen slowakischen Cafés und Kneipen hörte, gratis und vorgetragen mit glaubhafter Überzeugung?Dieses Vertrauen ist verloren. Nun, bei meinen Lesungen in Magnitogorsk, biete ich den Studenten an, Texte über den Krieg im ostukrainischen Donbass zu lesen, immerhin das russische Großthema des Jahrzehnts. Ich bin böse überrascht, feindseliges Schweigen zu ernten. Die Zuhörer zu einer Diskussion anzustiften, gelingt mir nicht. Ich frage sie geradeheraus, ob sie mir Glauben schenken und bleibe schweigend sitzen. Dieses Duell verliere ich. Später sagt ein Student: „Frag, welche Organisation den Reporter schickt, und du weißt, was er schreibt.“ Ich darauf: „Mich schickt keine Organisation. Also glauben Sie mir?“ Das Schweigen geht weiter.Auch die Flüchtlingskrise erlebte ich in der Slowakei, also in einem der vier Visegrád-Länder, die sich der Aufnahme von mehr als einer Handvoll Flüchtlinge verweigerten. Die Debatten in Österreich und der Slowakei verliefen 2015 so unterschiedlich, als wären das keine Nachbarländer gewesen, sondern fremde Galaxien. Verständigung war unmöglich. In Österreich sprach man in den ersten Wochen vom Helfen, in der Slowakei löste allein der Beschluss der EU, Flüchtlinge nach Quoten zu verteilen, eine Welle des Hasses aus, wie ich sie noch nicht gesehen hatte. Ich versuchte es in meiner Stammkneipe mit dem Argument, dass die Slowakei einst der „Koalition der Willigen“ angehört und somit den Exodus aus dem Nahen Osten mit verschuldet hatte. Das war der Moment, als mich mein slowakischer Zechgenosse um ein Haar vom Barhocker stieß.Selten und kostbarAuch wenn die Politik Trumps und der chaotische Brexit der EU Momente des Zusammenhalts bescheren, hat sich Europa nicht von den Verwerfungen der drei entsolidarisierenden Krisen erholt. Auch in Österreich und in Deutschland brach das Vertrauen in die führenden Medien ein.Wie ich als österreichisches Arbeiterkind durch die sowjetische Arbeiterstadt Magnitogorsk laufe, steigt in mir die Frage nach dem Verbleib der Arbeiterklasse auf. Arbeiterinnen und Arbeiter wählen in Österreich mehrheitlich rechtspopulistisch; in der Slowakei wählen sie gar nicht und wenn doch, dann auch populistisch, etwa die Partei eines aus der Klatschpresse bekannten Mafioso, der mit neun Frauen zehn Kinder gezeugt hat und seine mit heißer Nadel zusammengeschusterte Parlamentspartei „Wir sind eine Familie“ nennt. Immer wieder suche ich auf meinen Reisen Beispiele authentischer linker Politik. Sie sind selten und umso kostbarer.In Magnitogorsk wechsle ich noch öfter zwischen Asien und Europa. Am Tag sehe ich, dass die nächtlichen Gestalten auf der Insel im Uralfluss offenbar simple Dauercamper sind; der Thrill der Nacht verfliegt im Nu. Ich gehe auch noch öfter ins Café Pride. Der elegante durchtrainierte Cafetier sitzt bei Gästen in einer zuhörenden Nachdenkpose, den Zeigefinger in die Schläfe geschoben. Ein junger Mann in einem weich anliegenden Sweater steht an der Bar, aufgekratzt, aber auch unsicher um sich blickend.
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