Jon Platt ist so ein Typ, ein Brite, der vor Gericht zog, um gegen eine Strafe von 60 Pfund vorzugehen, die er zahlen sollte, weil er mit Frau und schulpflichtiger Tochter außerhalb der Ferienzeit Urlaub in Florida gemacht hatte. Sein gutes Recht, wie er fand. Über Jon Platts „Kampf“ wurde ausführlich berichtet – in großen britischen Medien. Unter anderem an jenem Tag im Jahr 2017, an dem die zynische „rape clause“ in Kraft trat: eine Ausnahmeregelung des 2015 beschlossenen Sozialkürzungspakets, die armen Frauen steuerliche Vorteile einräumt, wenn sie nachweisen können, dass ihr Kind aus einer Vergewaltigung hervorgegangen ist. Worüber an diesem Tag wiederum nur wenig zu lesen oder zu hören war.
Darren McGarvey hasst
rvey hasst Typen wie Jon Platt, weil sie sich so aufspielen. Er hasst es, dass es dafür auch noch ordentlich Aufmerksamkeit gibt – und für die „rape clause“ nicht. Und nach der Lektüre des Kapitels über Jon Platt hasst man das auch und spürt ein bisschen was von dem „Feuerball in der Brust“, den McGarvey seit seiner Kindheit kennt.Um diese Kindheit geht es in dem kürzlich in deutscher Fassung erschienenen Buch Armutssafari nur vordergründig. Sie ist die „Schaufensterdekoration, die nötig ist, damit jemand aus der Unterschicht überhaupt ernst genommen wird von den Großen und Guten dieser Welt“. Pflichtbewusst erzählt der als „Loki“ bekannt gewordene schottische Rapper also, was er in den vergangenen Jahren bereits in unzähligen TV-Sendungen geschildert hat: das Aufwachsen in armen, heruntergekommenen, sozial abgehängten Gegenden an den Rändern der schottischen Großstadt Glasgow, in von Angst, Gewalt, Drogen, kranker Männlichkeit und Hass auf die Mittelschicht zusammengehaltenen Gemeinschaften. Gemeinschaften, um die herum sich die Armutsindustrie etabliert hat – das eigentliche Thema von Armutssafari. Das Verwalten, Begleiten und „Gestalten“ von Armutsfolgen war in den vergangenen Jahrzehnten im Vereinigten Königreich ganz besonders gefragt. Hier setzte in den 1970er Jahren schon früh ein, was für gewöhnlich und viel zu harmlos klingend „Deindustrialisierung“ oder „Strukturwandel“ genannt wird. Und hier kam 1979 mit Margaret Thatcher eine konservative Regierungschefin an die Macht, die mit unerbittlicher Härte daran ging, Sozialstaat und Staatseigentum zu zertrümmern. Während die Arbeiterklasse zusehends verstummte, öffentlich nur mehr als Karikatur überlebte und denunziert wurde, erlebte die Armutsindustrie ihren Aufstieg.Sind so liebe SozialarbeiterSie wird, wie McGarvey beschreibt, von wohlmeinenden Angehörigen der Mittelklasse, von Sozialarbeitern, Journalisten, Künstlern, Stiftungen und Politikern getragen, die Armut lindern, aber nicht überwinden helfen wollen, die „Brücken bauen“, nicht aber den Fluss austrocknen wollen, der sie von der verarmten Arbeiterklasse trennt. Es sind jene, die klagen, dass die Armen keine Stimme haben, aber zurückschrecken, wenn ihre „Klienten“ die Stimme erheben. Was dann zu der politischen Apathie führt, die den sogenannten Abgehängten gerne vorgehalten wird. Zur Armutsindustrie gehört auch, dass ein Interesse an Betroffenheitserzählungen von Menschen wie McGarvey besteht, nicht aber daran, was sie politisch zu sagen haben. Der Armutsindustrie habe er seine Popularität zu verdanken, glaubt der 35-Jährige. Und er hat nichts als Verachtung für sie übrig. Sein Rat: „Hütet euch vor diesen Leuten!“ Das schreibt McGarvey aber, taktisch geübt, nicht schon am Beginn von Armutssafari, sondern erst nach mehr als der Hälfte des Buches; da ist er sich sicher, endlich sagen zu können, was er „wirklich sagen möchte“. Denn McGarvey ist überzeugt: Jemand wie er würde niemals ein Buch veröffentlichen können, gäbe es keine Elendsgeschichte zu erzählen. Die Frage ist nur, wen seine Warnung vor „diesen Leuten“ und die Ermunterung, statt sich mit ihnen einzulassen lieber in die eigene Kraft zu vertrauen, erreichen wird.Das Problem mit dem ansonsten fabelhaften Text ist nämlich, dass, ganz offen gesagt, die Falschen ihn lesen und darüber reden und Ausschnitte daraus verwenden werden, um das zu untermauern, was sie ohnehin schon zu wissen glauben und dann so weitermachen wie bisher. Genau die Leute, für die der Autor „Anekdoten“ über seine alkoholkranke, inzwischen tote Mutter in den Text eingestreut hat; Leser, die der Verlag offenbar als Zielgruppe ausgemacht hat und denen er eine „sehr persönliche Reise“ in „diese Welt“ verspricht. Er selbst lese Bücher über Armut gar nicht, schreibt wiederum McGarvey. Und da ahnt man schon, dass er ahnt, dass der im Vorwort geäußerte Wunsch, sein Text würde auch „seine Leute“ erreichen, kaum in Erfüllung gehen wird. Täte er es doch, würde die Meinung dieser Menschen über das Gelesene nicht publik oder sie würde zuvor eingehegt von denen, die über die Vergabe von Literaturpreisen, über Feuilletons, Radiosendungen und TV-Inhalte bestimmen, Journalisten beispielsweise. Und wenn, gegen jede Wahrscheinlichkeit, an ihnen vorbei dennoch jemand zu Wort käme, wer würde dann noch – wirklich – zuhören? Dieses Problem zeigt sich übrigens schon im Titel des Buches. Armutssafari kann als Kritik an der Armutsindustrie gelesen werden. Kann aber auch als Verheißung an die Leser verstanden werden, dass hier ein kurzweiliger literarischer Abstecher in die Welt des Proletariats winkt. Das deutsche Publikum wird an den Franzosen Eribon denken. Dass man die Klassenfrage bis kurz vor Eribon schon für halbwegs gelöst hielt – geschenkt. Jetzt lässt es sich erneut eintauchen in die Welt der Unterschicht, an politisch kontroversen Stellen vielleicht innerlich den Kopf schütteln, um dann großzügig darüber hinwegzusehen. Und gemeinsam mit dem Autor Typen wie Jon Platt hassen – mehr aber auch nicht.Placeholder infobox-1
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