A–Z Nackt In Paris ziehen sich Aktivistinnen für den Protest aus, in San Francisco sollen Unbekleidete aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Über das Nacktsein als Dauerbrenner
Autorität „Als zukünftiger Abteilungsleiter würde mich zum Beispiel stören, wenn meine Mitarbeiter mich nackt gesehen hätten. Das untergräbt die Autorität.“ Hat der Karrierist in spe mit seinen Sorgen im Planet-Liebe-Forum nicht recht? Immerhin wissen wir aus dem Hans-Christian-Andersen-Märchen Des Kaisers neue Kleider, dass zwischen Nacktheit und der Abwesenheit von Autorität ein Zusammenhang besteht. Hinsichtlich der Bedeckung des Adam-und-Eva-Kostüms gilt in der Arbeitswelt wie auf dem diplomatischen Parkett: Mehr ist mehr. Mehr Stoff, so haben Studien ermittelt, bedeutet automatisch mehr Autorität. Körperpanzer-Kleidung und verletzliche Nacktheit kennen wir auch durch das Gegenbeispiel, das als Rezept gegen Autori
ch durch das Gegenbeispiel, das als Rezept gegen Autoritätshörigkeit und Angstschweiß helfen soll. Hat man zu sehr Respekt vor dem Gegenüber, soll man sich diesen einfach nackt vorstellen. Das schmälert seine oder ihre Gewichtigkeit. Da wäre ein gemeinsamer Saunabesuch womöglich aber ganz nützlich für die Vorstellungskraft. Tobias PrüwerEExhibitionismus Freistunde. Ich war 16, schlenderte mit einer Freundin durch den Stadtpark. Ein Mann kam uns entgegen, er öffnete seinen Mantel, darunter war er splitterfasernackt. Die Szene entsprach völlig dem gängigen Klischee und war so absurd, dass wir nach einer Schrecksekunde beide anfingen zu prusten – er floh. Geschockt waren wir zwar nicht, aber irritiert. Heute würde ich vermutlich nur den Kopf schütteln, sicher auch keine gewünschte Reaktion. Das Gesetz sagt: Auf öffentliche Entblößung steht Bußgeld, auf öffentliche Masturbation ein Jahr Gefängnis, sind Kinder betroffen, können es fünf werden. „Exhis“ sehen ihre sexuelle Neigung in der gleichen Linie wie Voyeurismus oder Fetischismus. Dass sich dabei Menschen belästigt fühlen, steht für sie in keinem Verhältnis zu ihrer Kriminalisierung. In Zeiten wachsender Toleranz, mit Nacktfotos an jedem Kiosk, möchten sie das Strafmaß zur Diskussion stellen. Ich nicht, wenn es um Kinder geht. Jutta ZeiseExport Die ukrainischen Frauenrechtlerinnen von Femen haben in Paris eine Schule eröffnet. Dort sollen empörte Menschen lernen, was Femen seit zwei Jahren erfolgreich tut: den hüllenlosen Protest. Sich barbusig den Übeln der Welt entgegenstellen, mag mancherorts funktionieren. Doch ausgerechnet Paris, wo kein Nippelgate mehr zieht? Unterwäschewerbung oder Busenblitzer-TV: Wer nimmt denn Nacktproteste – ob gegen Studiengebühren, Pelze oder Klimawandel – zwischen all der im Alltag fleischgewordenen Bekleidungsdürftigkeit überhaupt noch wahr? Der kalkulierte Tabubruch des „Dann ziehe ich mich eben aus!“ ist zur biederen Pose geworden. Oder nimmt jemand PETA ab, sich um mehr als sich selbst zu drehen? TPFFKK Ich komme zwar aus der DDR, aber FKK finde ich trotzdem doof. Nein, auch als Kind habe ich immer einen Badeanzug getragen. Bitte nie wieder fragen! Bitte, bitte!!! Jana HenselFlitzer Sie rennen für eine Minute Ruhm ins Rampenlicht. Dann werden sie meist von Ordnern überwältigt und abgeführt. Das beliebteste Einsatzgebiet von Flitzern sind sportliche Großveranstaltungen. Der berühmteste aller Flitzer, der Katalane Jaume Marquet alias Jimmy Jump, nutzt diese Bühne bis heute. Die Grundausstattung eines Flitzers alter Schule ist das Adamskostüm. Wer nackt über den Platz flitzt, macht die Peinlichkeit und das Aufsehen komplett. Letzte Saison legte ein unbekleideter Mann beim Spiel zwischen Augsburg und München einen Vierfach-Flickflack hin und gab danach Interviews. Der legendärste deutsche Nacktflitzer ist Ernst „Ernie“ Wittig. Seinen größten Auftritt hatte er 2005 im Dortmunder Westfalenstadion, als er sich vor 76.000 Zuschauern im Mittelkreis als Bodybuilder aufbaute. Wittig sieht seinen Körper als Gesamtkunstwerk, die Flitzerei ist für ihn kein Jux, sondern ein politisches Happening. Die Quittung: Er verbrachte schon geraume Zeit im Gefängnis. Mark StöhrMMut Ich bin gerne nackt, ich mag meinen Körper, aber ich muss mich jetzt nicht dringend immer und überall entblößen. Die Wiener Fotografin Michele Pauty fragte mich, ob ich Teil ihres Kunstprojekts sein möchte. Sie porträtiert Frauen über 30 nackt an öffentlichen Orten in Wien, zu denen sie einen Bezug haben. Ich entschied mich für das Riesenrad, Wahrzeichen dieser Stadt, die mir lange Heimat war und eine Lebensliebe bleiben wird. Wir trafen uns an einem Morgen im April, es war eisig und nebelig. Obwohl noch vor Sonnenaufgang, waren ganz schön viele Passanten unterwegs. Betrunkene aus dem nahegelegenem Nachtclub Praterdome, alte pfandsammelnde Mütterlein, die nichts in ihren Betten hielt sowie fröhlichen Jungs von der Müllabfuhr. Ich war gehemmt. Die Fotografin: „Jetzt oder nie!“ Ich tat es, bibberte, posierte. Um nichts bereue ich die später ausgestellten Bilder, die sehr schön geworden sind, doch immer noch habe ich das Keifen der alten Dame im Ohr, die mir nicht nur mangelnden Anstand vorwarf. Sophia HoffmannOOlympische Spiele Bis die Christen kamen, rangen die Athleten im antiken Griechenland nackt um ihren Sieg bei den Olympischen Spielen – übrigens auch die Trainer. Die Idee, nackt zu turnen, könnte aus Sparta kommen, Ehrfurcht gegenüber Zeus gewesen sein oder aber auf dem Gerücht basieren, nackte Läufer seien schneller. Wobei nicht die Keuschheit schuld an dem Verbot der Spiele trug, sondern Zeus, dem dieser heidnische Wettbewerb gewidmet war. Als die Olympischen Spiele zum Ende des 19. Jahrhunderts wieder entdeckt wurden, hatte sich auch die Gesellschaft verändert: Öffentliche Nacktheit war tabu. Entsprechend reizte der Nacktsport, wenn auch nun aus Gründen einer neuen Lebenseinstellung (➝ Wandervogel-Bewegung). 1939 sollen in Thielle, dem Schweizer FKK-Mekka, die ersten Olympischen Spiele der Naturisten stattgefunden haben. Immer wieder turnen heute Menschen nackt, insbesondere, wenn sie für ein Anliegen kämpfen. Gina BucherSScanner Je nackter, desto sicherer? Groß war die Empörung über die Körperscanner an Flughäfen und die Frage wie viel Nacktheit im Namen der Sicherheit sein dürfe. Nicht so viel, wie der Scanner lieferte. Der konnte von Speckrollen bis Genitalien alles aufzeichnen, die Intimsphäre wäre endgültig dahin gewesen. Datenschützer waren entsetzt, der Scanner nicht en vogue. Die Passagiere nicht mehr ganz nackt zeigend, wurden die Geräte doch noch getestet: Sie schlugen regelmäßig Alarm – bei Schweißflecken und Tempos. Eingeführt wurden sie in Deutschland nicht. Benjamin KnödlerScham Wie viel Nacktheit fühlt sich richtig an, wann wird es unangenehm? Diesen Übergang markiert die Schamgrenze. Sie verläuft bei jedem anders, doch sie gehört zum Grundbestand unserer Kultur. Selbst die sogenannten Naturvölker, die ihre primären Geschlechtsteile gar nicht oder nur sparsam bedecken, haben meist genauso ein Schamgefühl. Nur liegt bei ihnen die Grenze anders. Die Scham ist eine Sanktion der Gesellschaft, aber auch ein Kontrollwerkzeug des Einzelnen. Wer nackt ist, gibt sich die Blöße. Er setzt seine Intimsphäre dem Urteil der anderen aus und macht sich so angreifbar. Kreationisten sehen den Ursprung der Scham in der Paradiesszene. Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, wurde ihnen ihre Nacktheit bewusst, und sie schämten sich. Für einige Evolutionisten hat die Scham hingegen mit dem Verlust des Fellkleides zu tun. Wer seine Nacktheit fortan anders schützte, war im Überlebensvorteil. Ein zumindest im Herbst und Winter ziemlich plausibles Argument. MSSeminar Meine damaligen Mitbewohnerinnen besuchten ein Seminar zu Sexualität auf der Bühne. Die erste Aufgabe: Pornos unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten gucken. Ich erbot Beistand. Wir liefen zur einzigen Videothek der katholischen Kleinstadt, ins Séparée über 18. Der ausgewählte Film enttäuschte maßlos. Fingierte Pärchen machten es auf Londoner Vorstadtsofas im Doggy-Style. Was meine Mitbewohnerinnen anschließend bei den Übungen erlebten, berichteten sie beim dritten Eierlikör zwischen Euphorie und Weinkrämpfen bruchstückhaft. Zur Abschluss-Performance des Seminars, Die Büchse der Pandora, wollte jeder kommen. Rein kam aber nur, wer zusagte mitzumachen. Erst Schnitzlers Reigen, dann ein Nacktbuffet und schließlich eine Stöhn-Tanzperformance zu Ehren der verstorbenen Pornodarstellerin Cora. Als die Teilnehmer ohne alles über eine Seifenbahn rutschten, rissen sich die ersten Zuschauer die Kleider vom Leib. Auf einmal tanzten überall farbverschmierte, glitschige Körper. Die Nackten waren in der Überzahl und drängten die Angezogenen an den Rand der Bühne. Anna FastabendWWandervogel-Bewegung Das Wandern ist des Nackten Lust? Dass gerade Wanderer die Freikörperkultur beförderten, mag abenteuerlich anmuten. Doch war auch die Wandervogelbewegung an der Verbreitung unbedeckter Körperaktivitäten beteiligt. Als Teil der Lebensreformbewegung wurde der Wandervogel 1896 in Steglitz bei Berlin gegründet, um Schüler und Studenten in freier Natur zu neuer respektive alter Lebensform anzuleiten. Bald schwappten die romantischen Ideen über das ganze Reich, es entstanden Lokalgruppen. Über Alkoholabstinenz und Vegetarismus, aber auch die Frage der Einbindung junger Frauen, entstanden eigene Schwerpunkte. Die Nichteinbindung von Politik blieb eine Gemeinsamkeit. In Gemeinschaftstanz und Gymnastik sahen die Wandervögel ein Heilmittel gegen den Großstadtmief – das betrieben sie gern nackt. Nicht von Kleidung eingeschnürt, wollten sie im Sauerstoffbad ihre Körper neu erleben. TPZZeichenkurs Ich wollte zeichnen lernen. Da sich die menschliche Anatomie dazu besonders eignet, kaufte ich einen Playboy. Das Abzeichnen der Bunnys war unbefriedigend. Immer wieder verlor ich die Geduld und pauste sie stattdessen ab. Also besuchte ich einen Aktzeichenkurs. Eine Wendeltreppe führte unters Dach ins Atelier. Dort war es tropisch warm. Modestudium-Anwärterinnen und alte Männer saßen an Tischen oder standen an Staffeleien. Vor ihnen ausgebreitet Pinsel, Kohlestifte und Kreide. Ich hatte vom objektiven Blick beim Zeichnen gehört. Als ich das Modell entdeckte, war an Professionalität aber nicht mehr zu denken. Leider wechselte der Typ ständig die Pose. Ich versuchte mitzuhalten. Aber je verbissener ich seine schöne Gestalt aufs Papier bannen wollte, desto mehr Ähnlichkeit bekam er mit Gollum. AFZeitschrift Die Jugendzeitschrift Bravo schmückte ihre Seiten schon immer gerne mit unbedeckten Abbildungen von Teenagern unter dem Vorwand des Aufklärungsauftrags. Diesen hat sie sicher auch für Generationen von Heranwachsenden recht vorbildlich erfüllt. Serien wie der 1997/98 veröffentlichte Love & Sex Report oder der Love Chair (eine Art nackter, heißer Stuhl) kratzen aber arg an der Grenze, da hier Minderjährige frontal nackt posieren. Intime Pflicht- oder Wahrheit-Fragen und reißerische Überschriften wie „Marco (17) – Mit 14 verführte mich ein Mädchen im Auto!“ gehörten dazu. Bei den Lesern erfreuten sich diese großer Beliebtheit, da man sich einerseits über die pubertierenden Körper seiner Altersgenossen lustig machen, gleichzeitig aber auch klammheimlich „Schwanzvergleich“ machen konnte. SH
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