Huhn oder Gangster

Brexit Ist das Vorgehen der britischen Regierung inkompetent, irrational oder doch strategisch? Eine spieltheoretische Analyse
Ausgabe 43/2017
Irrationalität kann sich auszahlen, auch wenn sie gespielt ist
Irrationalität kann sich auszahlen, auch wenn sie gespielt ist

Foto: Carl Court/AFP/Getty Images

Brexit sei kein Spiel, warnte Michel Barnier, der EU-Chefunterhändler für den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union. Nun sind die Folgen zweifellos ernst, aber im Sinne der Spieltheorie handelt es sich gleichwohl um ein strategisches Spiel. Die Akteure haben verschiedene Handlungsoptionen, sie haben unterschiedliche Ziele und die Ergebnisse hängen von den Entscheidungen der beteiligten Akteure ab. Diese Merkmale machen ein strategisches Spiel aus. Doch wie sähe so ein Brexit-Game aus?

Im sogenannten Chicken- oder Feiglingsspiel rasen zwei Autos aufeinander zu. Wer zuerst ausweicht, ist das „Chicken“. Bleiben beide Fahrer auf Kollisionskurs, kommt es zum tödlichen Crash. Spielen EU und Großbritannien das Chickenspiel? Die Einschränkung auf zwei Akteure, das Vereinigte Königreich, das so einig ja nicht ist, und die EU 27, ist eine starke Vereinfachung. Auch innerhalb der EU gibt es schließlich Staaten mit recht unterschiedlichen Interessen. Ferner ist das Spiel dynamisch, weil es zahlreiche Züge aufweist, die – wie beim Schach – nacheinander ausgeführt werden können, und sich bei jedem Zug mehrere Handlungsoptionen eröffnen. Schließlich ist bei Krisensituationen von Staaten immer mit Irrtümern, Fehleinschätzungen, Bluffs und Selbsttäuschung über die Ziele des Partners zu rechnen. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs legt davon Zeugnis ab.

Aber wagen wir doch in erster Näherung eine radikale Vereinfachung. Monsieur Barnier und Mr. Davis sind die beiden Verhandlungspartner, die für die EU 27 und Großbritannien stehen. Beide haben nur je zwei Alternativen: die Ziele des anderen zu akzeptieren (kooperative Strategie) oder zu versuchen, die eigenen Maximalforderungen durchzusetzen (unkooperative Strategie). Kooperieren beide, führt dies zu einem Kompromiss, bei dem beide Abstriche von ihren Zielen machen müssen. Die EU hat ihre Ziele klar benannt: Der Brexit muss mit einer hohen Summe X bezahlt werden, die Interessen von EU-Bürgern in Großbritannien und von britischen Bürgern in der EU müssen gesichert werden, und die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland darf Handel und Bewegungsfreiheit nicht hemmen. Sollte Großbritannien im Binnenmarkt verbleiben, muss es Freizügigkeit von EU-Bürgern gestatten und EU-Recht übernehmen (die norwegische Lösung).

Mr. Davis dagegen möchte nur eine kleinere Summe Y zahlen, einige Abstriche an den Rechten von EU-Bürgern in England machen und vor allem den Handel wie bisher zu Bedingungen des Binnenmarkts abwickeln, den Zustrom von EU-Bürgern aber in eigener Verantwortung regeln. Beide Pakete liegen auf dem Tisch. Kombiniert man die je zwei Strategien, ergeben sich vier potentielle Ergebnisse.

Ist Barnier Al Capone?

Nun kommt es darauf an, wie die Ergebnisse von beiden Parteien bewertet werden. Klar ist, dass jede Partei die Durchsetzung der eigenen Ziele und das Einlenken des Partners als bestes Ergebnis bewertet. Beidseitige Kooperation wird als zweitbestes Ergebnis gewertet, denn EU und GB haben schließlich auch gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen, deren Beschädigung für beide mit Kosten verbunden ist. In der Höhe der Kosten zeigt sich aber die Differenz. Beharren beide auf ihren Forderungen, wie es derzeit der Fall ist, kommt es zum „harten Brexit“. Das wäre für die EU zwar bedauerlich, würde aber Großbritannien wesentlich härter treffen. Ohne „Deal“ würden ab März 2019 die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gelten, etwa würden Autos mit zehn Prozent besteuert und Agrarerzeugnisse mit bis zu 40 Prozent. Zahlreiche weitere Konsequenzen, etwa für den Flugverkehr, wären bitter für beide Seiten. Aber Großbritannien würde wohl mehr leiden als die EU. Ein BMW-Werk in England wäre kaum noch profitabel, Investitionen würden abziehen, eine Rezession wäre die wahrscheinliche Folge. Wechselseitige Nicht-Kooperation wäre demnach für die Briten das schlechteste, für die EU aber nur das zweitschlechteste Resultat. Dafür gibt es einen weiteren Grund: Die EU muss auch einen Reputationsschaden abwehren. Würde sie ein Land mit allen bisherigen Vorteilen austreten lassen, aber ohne die Pflichten der Mitgliedschaft, würde bald der nächste Exit-Kandidat anklopfen. Brexit-Befürworter werfen Michel Barnier deshalb eine „Al-Capone-Politik“ der Erpressung vor, so Lord Forsyth in der Daily Mail.

Verkalkuliert

Die Zahlen bezeichnen den Bewertungsrang für die beiden Verhandlungspartner: 4 ist das beste, 1 das schlechteste Ergebnis. Die EU hat eine dominante Strategie, weshalb „nicht kooperieren“ für die EU immer bessere Ergebnisse bringt als „kooperieren“. Großbritannien wird somit kooperieren, um den schlimmsten Fall wechselseitiger Nicht- Kooperation zu vermeiden. In der unteren Tabelle, nach Mays (Täuschungs-) Manöver, sind Großbritanniens Ränge 1 und 2 vertauscht. Aus dem ungleichen Chickenspiel wird ein Gefangenendilemmaspiel.

blau = Europäische Union / rot = Großbritannien

Die Rangfolge der Bewertungen für beide Parteien ergibt sich aus diesen Überlegungen, die Spielmatrix (siehe Abbildung) ist damit festgelegt. Entscheidend ist die Machtasymmetrie, die sich aus den Konsequenzen des harten Brexits ergibt. Die EU kann auf ihren Forderungen beharren, Großbritannien aber nur um den Preis der Selbstschädigung. Monsieur Barnier und Mr. Davis spielen eben nicht das konventionelle Chickenspiel! Aber auch kein reines Gefangenendilemma, jene Spielvariante, in der zwei von einander isolierte Angeklagte vor der Entscheidung stehen, ob sie die Aussage verweigern – und eine kurze Gefängnisstrafe erhalten –, oder ob sie den jeweils anderen verraten und dann, je nachdem, wie sich der andere verhält, entweder als Kronzeuge straffrei ausgehen, oder aber, wenn sich beide wechselseitig belasten, eine höhere Strafe kassieren. Im Brexit-Fall dagegen handelt es sich um eine Mischung beider Spiele aus Gefangenendilemma (Rangfolge EU) und Chickenspiel (Rangfolge GB), eine Art asymmetrischer, unfairer Chickenvariante. Überspitzt formuliert: Monsieur Barnier sitzt in einer gepanzerten Limousine, Mr. Davis in einem Mini. Ein rationaler Mr. Davis ist gezwungen auszuweichen! Was zur Frage führt: Wie rational ist Davis? Oder, selbst wenn man unterstellt, er sei rational: Wie bewertet er seine Optionen?

Genau darauf zielt das Diktum der britischen Premierministerin: „No deal is better than a bad deal“, kein Abkommen, ein harter Brexit, wäre immer noch besser, als einzulenken. Damit würde sich die Rangfolge von schlechtestem (1) und zweitschlechtestem (2) Ergebnis in der Spielmatrix verkehren. Das würde die strategische Situation wesentlich zugunsten Englands verbessern. Aus dem ungleichen Chickenspiel entstünde eine Art Tauschgeschäft, das nunmehr dem Gefangenendilemma entspricht und beide Seiten zu einem Kompromiss zwingen würde. Die EU müsste in diesem Fall Zugeständnisse machen, weil die Drohung des harten Brexits reale Gestalt annimmt. Ähnlich wie die Premierministerin äußern sich die Hardliner in der Brexit-Fraktion, die die No-Deal-Variante durch die rosarote Brille betrachten. Es ist sehr gut möglich, dass die Schönfärberei des harten Brexits ein Signal an die EU ist: „Seht her, so leicht werden wir nicht einlenken. Ihr müsst schon ein besseres Angebot auf den Verhandlungstisch legen!“

Es gibt aber auch eine zweite Interpretation dieser Strategie. Denn die Anhänger des Brexits sind selbst gespalten. Während die Hardliner überzeugt sind, dass kein Deal eine bessere Lösung sei als ein schlechter, könnte Theresa May, die selbst ursprünglich gegen den Brexit war, bloß versucht sein, die wahre Rangfolge der Bewertungen der britischen Regierung zu verschleiern. Selbst wenn man den harten Brexit als schlimmstes Ergebnis für Großbritannien einstuft, macht es aus Sicht der Briten Sinn, der EU weiszumachen, kein Deal sei erträglicher als eine Verhandlungslösung nach Vorgaben der EU. „Irrationalität“ und Realitätsverleugnung, ob echt oder vorgetäuscht, könnten sich paradoxerweise auszahlen. Dann käme es aber darauf an, dass die Drohungen glaubwürdig erscheinen. Wenn nicht, wird sie ein knallharter Verhandlungspartner einfach ignorieren.

Schein-Chaos als Strategie

Das „Paradox scheinbarer Irrationalität“ könnte dennoch Zweifel säen. Sind die „Irrationalität“ und chaotische Verhandlungsstrategie der Briten, wie sie vom Kontinent aus wahrgenommen werden, womöglich nur ein Trick? Das weiß auch Brüssel nicht. Spieltheoretisch gesprochen handelt es sich um ein Spiel mit unvollständiger Information. Wenn man nicht ganz sicher ist, ob die Gegenseite rational ihre Interessen verfolgt oder vielleicht doch Konsequenzen anders einschätzt, erscheint es sicherer, dem Verhandlungspartner kleinere Zugeständnisse zu machen, um ihn vom Kollisionskurs abzubringen.

So oder so – zweifellos werden wir in den kommenden eineinhalb Jahren noch einiges an turbulenter Spieldynamik erleben. Natürlich möchte auch der aus Sicht britischer Boulevardblätter anglophobe Monsieur Barnier nicht, dass seine Limousine Schaden leidet, wenn er nicht mit Sicherheit weiß, ob Mr. Davis ausweichen wird. Schließlich ist beidseitige Härte auch für die EU ein ungünstiges Ergebnis, das durch Verhandlungen abgewendet werden kann. Deshalb wird es vermutlich zu einem Kompromiss kommen. Dieser wird aber wegen des glaubwürdigeren Drohpotenzials wohl eher zugunsten der EU ausfallen.

Andreas Diekmann, derzeit am Wissenschaftskolleg zu Berlin, lehrt an der ETH Zürich Soziologie und Spieltheorie. Seine Einführung in die Spieltheorie ist bei Rowohlt erschienen.

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