Diesen Sommer ging ich in den Meeren vor Schottland schwimmen, und ich verband das mit einer Umfrage. Es ist kalt dort oben, ich war überall der einzige Schwimmer, und den Leuten in ihren Pullovern, Mänteln und Regenjacken stellte sich mein Projekt wohl folgendermaßen dar: Da steigt ein Verrückter aus der See, in Badehose und mit geröteter Haut, trocknet sich schlotternd ab und fragt Schaulustige in schlechtem Englisch, ob sie beim bevorstehenden Referendum für die Unabhängigkeit Schottlands stimmen wollen. Gewiss ein Schockeffekt. Ich versprach mir davon ehrliche Antworten.
Ich war um diese Zeit das erste Mal in Schottland, und auch wenn mich an diese Ecke Europas keine Leidenschaften binden, so beeindruckte mich in der Hauptstadt Edinburgh doch der Brauc
der Brauch, dass Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr dem Busfahrer beim Aussteigen danken. Das sollte man einmal im Kaukasus einführen. Davon angetan ging ich im Edinburgher Fjord schwimmen, im Firth of Forth. Flugzeuge im Landeanflug sanken auf mich herunter, und es begann zu regnen. Auf der Uferpromenade quatschten mich zwei adrette Großmütter belustigt an. Sie nannten die Idee der schottischen Unabhängigkeit „lächerlich“. „Wir wären viel schlechter dran, wir verlören eine Menge Geld.“ Eine wies entschlossen auf ihren Hund: „Wenn er könnte, würde er auch mit Nein stimmen.“Ich besuchte in Edinburgh zwei Freunde, einen schottischen Highlander und einen seit neun Jahren in Schottland lebenden Slowaken. Letzterer fasste die Debatte so zusammen: „Die Schotten sind Hosenscheißer.“ Wir fuhren zusammen an die Westküste, auf die Isle of Skye, eine Insel von der Art eines vollgesogenen grünen Schwamms. In der Whisky-Brennerei Talisker lernte ich, dass pro Jahr zwei Prozent des Whiskys aus den Eichenfässern entweichen, „das geht an die Engel“. Teile der Küstenstraße sind einspurig; wenn einen der entgegenkommende Fahrer passieren lässt, winkt man üblicherweise zum Dank. „Der da hat nicht gewinkt“, sagte unser Hochland-Schotte am Steuer, „der ist sicher ein Engländer.“Es folgte der relativ angenehmste Badespaß meiner Reise. Golfstrom, pittoreske Felsen, ein wenig Sonne sogar. Am Strand lagen junge einheimische Frauen, alle mollig und in voller Bekleidung. Unabhängigkeit? „Die können wir uns nicht leisten“, sagten sie. „Die leben sicher von der Stütze“, giftete unser Highlander im Weggehen, „die schottische Regierung will die Bezugsdauer beschränken.“Es ist das offenbar eine historische Debatte. Dutzende Bücher sind erschienen, seit Monaten gibt es täglich Sonderseiten in den Zeitungen, abseits der schottischen Strände begegneten mir auch nicht wenige Begeisterte, die auf unzähligen Internetseiten für die Unabhängigkeit kampagnisieren. Bei der Lektüre ihrer Debattentexte kann ich mich freilich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in diesem Megadiskurs hauptsächlich um die Kohle geht. Die Nein-Kampagne rechnete aus, dass eine schottische Familie zehn Wochen lang täglich Fish and Chips schmausen könnte – so viel brächte die Union mit England für einen Durchschnittshaushalt an Subventionen, das sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. „Was würden Sie davon halten“, plakatierte das Ja-Lager, „in einem der reichsten Länder der Welt zu leben?“ Und deren Rückgrat, die Scottish National Party (SNP), schämte sich nicht vorzurechnen, dass Schotten derzeit kürzer leben als Engländer – ohne Unabhängigkeit entgingen dem durchschnittlichen Schotten daher 10.000 Pfund Rente.Die Nordsee vor der nordöstlichen Großstadt Aberdeen kostete mich die größte Herausforderung. Der Horizont war weit, Versorgungsschiffe der Ölplattformen lagen vor der Küste. Als ich aus dem Wasser kam, war meine Haut brennrot. Auf der mondänen Strandpromenade stand ein Klo-Pavillon, der mit seinen Mosaiken an ein portugiesisches Kaffeehaus erinnerte. Davor ein dicker Toilettenwärter in Leuchtjacke, verkabelt mit Ohrstöpseln und Smartphone. „Sehen Sie Ihren Arbeitsplatz bedroht?“, fragte ich den älteren Mann, dem das Referendum nichts als Sorgen bereitete. „Oh ja, die Seniorenfreifahrt im Autobus soll ja auch abgeschafft werden. Und auf wen können wir uns dann verlassen? Die Ölfirmen könnten weggehen, und in den gemeinsamen Markt der EU würde man uns erst nach fünf bis sechs Jahren lassen.“„Common Market“ – den Ausdruck hörte ich oft. Schottland gilt zwar als ein wenig europäischer als England; hier wird seit jeher das römische Recht angewendet. Werte wie Umverteilung von den Reichen zu den Armen finden in Umfragen mehr Zustimmung als in England. Aber so hoch mein körperlicher Einsatz auch war, Europa blieb für die meisten dieser rechnenden Schotten nichts als ein gemeinsamer Markt.