Hurra, bald steht wieder der Untergang bevor!

Neoliberalismus Lexikon der Leistungsgesellschaft: Dass die Welt unter gegebenen Bedingungen noch zu retten ist, wird immer unvorstellbarer. Nicht erst seit gestern
Ausgabe 42/2019
Plastik und Hitze: die apokalyptischen Reiter von heute
Plastik und Hitze: die apokalyptischen Reiter von heute

Foto: Orlando Sierra/AFP/Getty Images

Sie ist also wieder da, die Angst vor dem Untergang. Wenn Björn Höcke in seiner AfD „die letzte evolutionäre Chance“ für das „deutsche Volk“ sieht, greift der rechte Apokalyptiker auf eine Erzählung zurück, die in den 1920er Jahren etwa der Philosoph Oswald Spengler vorantrieb: Sein Untergang des Abendlandes war das meistgelesene Sachbuch der Weimarer Republik. Schon Thilo Sarrazin griff den rechten Topos wieder auf.

Doch Untergangsangst gibt es heute auch von anderer Seite. Greta Thunberg sprach vor den UN mit Tränen in den Augen vom Anfang eines Massenaussterbens. Ähnlich klingt dies bei der klimapolitischen Gruppe Extinction Rebellion, die vor dem Aussterben von Pflanzen, Tieren und der Menschheit selbst warnt. Apokalypse hier wie dort, denken sich so manche und zählen eins und eins zusammen. Dabei rücken sie diejenigen, die Angst vor einer Klimakatastrophe haben, in ein rechtes Licht, schließlich war doch die Ideologie der Nazis tief in Apokalyptik und Eschatologie verstrickt.

Natürlich ist die Umweltbewegung, die vor etwa 50 Jahren entstand, ohne Angst vor dem Untergang der Menschheit kaum denkbar. Jedoch erfuhr das apokalyptische Denken jenseits völkischer Untergangsfantasien in den vergangenen Jahren auch andernorts eine Renaissance: Atomkriege, menschheitszerstörende Killerviren oder die Angst vor einem Riesenasteroiden, der die Erde zerstört – ein Blick auf die Liste berühmter Kinofilme seit den 1970er Jahren lässt schnell erkennen, wie tief verankert die Vorstellung einer „Zukunft als Katastrophe“ (Eva Horn) ist.

Auch die Philosophie war seit den 1970er Jahren Antreiberin endloser Geschichten vom Ende: das Ende des Subjekts, das Ende der großen Erzählungen. Das Ende der Geschichte.

Die Hoffnung auf eine frohe Zukunft unter Bedingungen des Hier und Jetzt macht sich kaum noch jemand, zu oft brach der Kapitalismus seine Versprechen. Alternativen scheinen aber noch unvorstellbarer. Der Dialektik von der Abkehr vom Fortschrittsglauben ist es zu verdanken, dass es heute bekanntlich einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.

Wer derzeit also eins und eins zusammenzählen will, sollte deshalb genau auf die Vorzeichen achten, bevor die Ergebnisse präsentiert werden. Minus eins plus minus eins ergibt noch lange nicht zwei. Und übrigens: Im Mittelalter hatte die Sorge vor dem Untergang noch ganz andere Effekte. Die Angst vor Sintfluten, Erdbeben, Plagen und der Pest beförderte etwa die Entstehung moderner Naturwissenschaften. Und die Aufklärung.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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