Hymne

A–Z Nach Paris drückten viele Menschen ihr Mitgefühl durch das gemeinsame Singen der Marseillaise aus. Denn Hymnen stiften Zusammenhalt, sorgen aber auch für das Gegenteil
Ausgabe 48/2015

A

AS Livorno In Italien ist Fußball politisch, in Livorno: links. Der AS Livorno ist der Club der Arbeiterbewegung, die Tifosi nennen sich Brigate Autonome (➝ Widerstand), und in der Nordkurve schmettern sie ihr Lied Avanti Livorno, mit der Melodie der sowjetischen Nationalhymne. Strecken Fans von Lazio Rom ihre Hand bisweilen zum Hitlergruß, sieht man in Livorno die geballte Faust. Mittelfeldspieler Cristiano Lucarelli, Sohn eines livornesischen Hafenarbeiters, stand für den symbolischen Klassenkampf. 1996 hat er vor der Ehrentribüne ein Che-Guevara-Unterhemd gelüftet.

Als Berlusconi den AC Mailand kaufte, wurde der zum Lieblingsfeind Livornos: Yuppieverein gegen soziales Kollektiv. Livorno war immer die Hochburg der italienischen Linken. Antonio Gramsci gründete dort 1921 die Kommunistische Partei Italiens, eine ganze Stadt widerstand Mussolini. Heute liegen die Werften brach, die Arbeiter verschwinden. Die Ultras schwenken weiter die rote Fahne und singen Bella Ciao. Was nicht mehr da ist, muss die Symbolik aufrechterhalten. Avanti, Livorno! Maxi Leinkauf

B

Biennale Nach sieben Monaten endete sie am vergangenen Sonntag, die 56. Kunstbiennale in Venedig, für die Frankreich und Deutschland vor zwei Jahren die Pavillons getauscht hatten. Neben dem Deutschen Pavillon gab es 2015 noch einen weiteren „deutschen“ Beitrag. Am Ende des Arsenale-Areals lockte eine vertraute Melodie in einen kleinen Turm: Joseph Haydns dritte Strophe des Deutschlandliedes. Doch der Text blieb unverständlich.

Der aus Nigeria stammende Künstler Emeka Ogboh hatte die Mitglieder des Berliner Afro-Gospel-Chors Bona Deus gebeten, die Lyrics der Nationalhymne in ihrer jeweiligen Muttersprache einzusingen. So tönte aus zehn Lautsprechern der Wunsch nach Einigkeit, Recht und Freiheit, mit einer Kraft, wie sie nur selten selbst von Fußballfans (➝ Sport) zu hören ist. Publizistin Marie Luise Knott forderte deshalb den Ankauf der Arbeit – für das Berliner Humboldt-Forum. Sarah Alberti

Bochum Bochum ist meines Wissens die einzige deutsche Großstadt mit einer eigenen Hymne, nämlich Bochum von Herbert Grönemeyer. Bochumern ist das häufig etwas peinlich, weil das Lied all das lobpreist, was schon zur Veröffentlichung des gleichnamigen Albums im Jahr 1984 für die Stadt kaum bis keine Rolle mehr spielte, nämlich Stahl, Kohle und der VfL. Grönemeyer ist dem Bochumer auch immer ein wenig peinlich, was weniger an seiner eigentümlichen Art zu singen liegt, als daran, dass genau diese so häufig persifliert wird.

Gleichwohl vermag jeder Bochumer das Lied zu singen, und ab circa 1,5 Promille Blutalkohol tut er es sogar auch. Es ist eben eine Hymne: Ihre Stunde schlägt, wenn das Herz ein- und der Verstand ausgeschaltet wird (➝ Zwölftonmusik), wobei die entsprechende Menge Bier oder Wein dabei bekanntlich hilft. Was ich an Bochum übrigens nie so ganz verstanden habe, ist die Betonung des Umstandes, dass auf der Königsallee keine Modenschauen stattfinden. Ist es andernorts denn üblich, Hauptverkehrsstraßen zu sperren, um dort Scharen von Models großflächig herumstöckeln zu lassen? Uwe Buckesfeld

E

Emotion Es gibt gute Gründe, Hymnen befremdlich zu finden. Und doch ist unbestreitbar, dass sie auch Emotionen auslösen. Man denke an die ergriffenen Mienen, die zu sehen sind, egal ob nun eine National- oder Vereinshymne (➝ AS Livorno) angestimmt wird. Kein Wunder, rührt die Musik – von Schlager bis Sonate – doch an unseren Gefühlskern. Verbunden mit der Tatsache, dass die Hymne, ein gemeinsam gesungener Nenner ist, geht ihre Kraft tief. Insofern sind Hymnen ideales Mittel, um Agenda und Emotion zu verbinden. Nicht zuletzt mit der Folge, dass die kritische Auseinandersetzung mit dem Besungenen verloren geht. Das kann sehr schön sein, oft aber auch nicht ungefährlich. Benjamin Knödler

F

Failed States Es gibt sie, die fragmentierten Nationen, die von rivalisierenden Clans dominiert und von ethnischen Konflikten zerrieben werden. Dort kommt es auch oft zu Gerangel um die Hymne. Zum Beispiel in: Belgien. Der einstige belgische Premierminister Yves Leterme ist von Journalisten einmal gefragt worden, ob er die belgische Nationalhymne in ihrer französischen Textfassung singen könne.

Er hat dann die Nationalhymne Frankreichs angestimmt. In Belgien gilt dies als symptomatisch für die langwierige Staatskrise. Die Parlamentarier scheitern regelmäßig daran, eine Regierungskoalition zu bilden. Leterme hat mit seiner Gesangseinlage (➝ Bochum) Öl ins Feuer des Konflikts zwischen der niederländischsprachigen Region Flandern und der französischsprachigen Wallonie gegossen. Symbolisch hat der Regierungschef damit die Wallonen ausgebürgert. Für Bürgerkriege gab es schon geringere Anlässe. Leterme kommt übrigens aus Flandern. Wie der Name vermuten lässt, ist er jedoch kein Bio-Flame. Lukas Latz

N

Nation „Was man Nationen nennt“, so schrieb Peter Sloterdijk, „sind zum großen Teil Staaten ohne Staatsbürger, improvisierte Synthesen heterogener Populationen im Sendebereich eines mehr oder weniger zentralisierten Staatsfunks.“ (➝ Failed States) Sollen sie mehr sein, braucht es nicht nur verbindliche Institutionen, sondern auch ein Inventar geteilter Symbole und Erzählungen. Die Nationalhymne sticht dabei hervor, fungiert sie doch als eine Art narrativer Speicher fürs kollektive Gedächtnis, als institutionalisierter Wiederholungszwang, der von der Revolution (Frankreich), Unabhängigkeit (USA) und geteiltem Leid (Israel) berichtet. Nils Markwardt

P

Platini Auch das millionenschwere Hochglanzprodukt Fußball (➝ Unternehmen), das UEFA und FIFA teuer vermarkten, kennt seine Hymnen. Mit den Fanchören auf den Stehtribünen hat das freilich wenig zu tun. Vielmehr geht es um die glatte, pseudodramatische Einlaufmusik nach Art von Orffs Carmina Burana, die das Fußball-Event mit Gänsehaut aus der Konserve versorgen soll. Auch die UEFA hat für ihre Europa League ein solches Stück, komponiert von Yohann Zveig. Der ist – natürlich nur rein zufällig – auch der Schwiegersohn von Michel Platini, aktueller UEFA-Präsident und derzeit gesperrter FIFA-Funktionär.

Ein Schelm, wer ob dieser Verbindung nun Böses denkt. 2007 wurde Platini gewählt, 2008 erhielt Zveig den Auftrag für die Komposition. Es wird sicherlich kein Ehrenamt gewesen sein. Vor allem war es auch ein Karrieresprungbrett. Für die Hymne der Weltfußballer-Wahl zeichnet er inzwischen ebenso verantwortlich wie für die aktuelle DFB-Hymne. Es ist zum Gänsehautkriegen. Benjamin Knödler

R

Rechtsrock Mit Hooligans gegen Salafisten gedieh ein Rechtsrocklied zum Namen einer ganzen Gruppierung. Poppiger ist Pegida unterwegs. Weil das Absingen der Nationalhymne zu unharmonisch ausfiel, rüstete man musikalisch auf (➝ Emotion). „Wir sind die erste Bürgerbewegung, die eine eigene Hymne hat“, schwärmte Lutz Bachmann. Immerhin erspart das E-Piano-Instrumental dem Hörer einen Text. Wobei besorgte Dresdner noch ein zweites Lied haben. Ein rechter Blogger hat zur Melodie von Eviva España getextet: „Und jeder ist ein Matador. Pegida, por favor!“ Tobias Prüwer

S

Sport Es war mein alter Deutschlehrer, der den Unterricht einmal mit einer halbstündigen Wutrede über den Begriff „Fankultur“ schloss, für ihn ein Oxymoron, weil „Fan“ und „Kultur“ (➝ Biennale) genauso wenig zusammenpassten wie „schwarze Milch“ und „lebender Toter“. Sein Ärger galt vor allem Fangesängen, gemeinhin wenig kreativ („Europapokal, Europapokal ...“) und künstlerisch zweifelhaft („... Europapokaaal, Eu-ro-pa-pokaaaaaaal“).

Mit „You’ll Never Walk Alone“ ist es anders. Das ist kein Fangesang, sondern eine Hymne. Und nein, sie ist nicht von den Toten Hosen und auch nicht von Frank Sinatra. Das Lied ist viel älter als man glaubt.Schon 1945 wurde es als Finale des Musicals Carousel aufgeführt. Die bekannteste Version stammt von Gerry and the Pacemakers aus dem Jahr 1963. Mittlerweile ist You’ll Never Walk Alone der Fußballsong in den Fanblocks vom FC Liverpool und Borussia Dortmund. Und liefert da eine Gänsehaut, mit der das Fußballspiel selbst oft nur schwer mithalten kann. Simon Schaffhöfer

U

Unternehmen Satte 400.000 D-Mark ließ sich die Expo 2000 ihren Drei-Sekunden-Jingle kosten. Immerhin hatten ihn auch die Elektropopper Kraftwerk komponiert. Die meisten Unternehmenshymnen basteln jedoch keine Prominenten (➝ Platini) zusammen. Solche Liedchen sollen nach außen Image und Vision vermitteln, nach innen Identität stiften. Viele wirken dabei aber unfreiwillig komisch. Bei Air Berlin hat man „Flugzeuge im Bauch, im Blut Kerosin“, Kaiser’s Tengelmann dichtet: „Wir bieten mehr als nur Discount / das stimmt die Kunden gut gelaunt.“ Und putzig groovt das Fuldaer Zahnlabor Con-Dental zu Reggaemusik: „Unser Job, das sind die Lücken, um sie mit Zähnen zu bestücken.“ Tobias Prüwer

W

Widerstand Jeder Protest braucht eine pumpende Hymne. In den 60ern war es Macht kaputt, was euch kaputt macht, in den 70ern Anarchy in the UK. Und heute? Pegida (➝ Rechtsrock) und AfD müssen zugeben, dass „Lügenpresse, Lügenpresse“ nicht die Sprengkraft der Internationalen hat. Die wurde 1871, kurz nach dem Ende der Pariser Kommune, geschrieben, und gehört seitdem in die weltweite Mundorgel des Sozialismus.

Ähnlich berühmt ist „El Pueblo Unido“. Erst eine Hymne der chilenischen Arbeiterklasse, wurde das Lied nach dem Militärputsch zum Zeichen des Widerstands gegen Pinochet. Heute werden beide Arbeiterlieder in zahlreichen Songs zitiert. Kendrick Lamar, Ikone der „Black Lives Matter“-Bewegung, sampelte El Pueblo Unido etwa in einem seiner Tracks. Klassiker werden eben nie alt, auch nicht im Widerstand. Simon Schaffhöfer

Z

Zwölftonmusik Adorno sagte mal, dass, „alle diese ➝ Nationalhymnen sowohl dem melodischen Duktus nach, aber auch der etwas feierlichen Harmonisierung und Instrumentation nach“ sich sehr ähnlich seien. Beim Zuhörer solle sich ein „Aha-Erlebnis“ einstellen. Instinktiv reagiere das Publikum bei der eigenen Hymne mit chauvinistischer Begeisterung und bei allen anderen Hymnen mit chauvinistischer Wut. Nationalhymnen haben für Adorno etwas „Schwungloses“, „etwas im geschichtsphilosophischen Sinne Gekünsteltes“, weil sie uralten Moden folgen. Mag sein. Nur: Welches Land gäbe sich eine Hymne mit Zwölftonmusik? Höchstens eine Diktatur der Philosophen und Zahnärzte. Lukas Latz

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