GÜNTER GAUS: Sie haben einmal, so heißt es, als junger Politiker am Gitter des Bonner Kanzleramtes gerüttelt und gerufen, ich will da rein. Rütteln Sie jetzt gelegentlich am Gitter des Berliner Kanzleramtes und rufen, ich will hier raus?
GERHARD SCHRÖDER: Der erste Teil ist eine schöne Geschichte, die ich nie bestätigt, aber auch nie dementiert habe. Ich will das durchbrechen - sie stimmt. Und der zweite Teil - nein, warum sollte ich?
Man könnte sich Gründe denken. Also, Sie rütteln nicht und sagen, ich will da raus?
Überhaupt nicht. Ich habe dafür gearbeitet, drin bleiben zu können, und ich hab noch was vor.
Als wir dieses Interview Ende September vereinbarten, waren Sie sehr niedergestimmt. Sie hatten an dem Nachmittag das sechste Mal - ich habe es nachgeprüft - die Möglichkeit Ihres Rücktritts als Bundeskanzler erwähnt. Sie sind ein gelernter Politiker und wissen, so etwas nutzt sich schnell ab. Warum haben Sie dennoch nach diesem Mittel gegriffen?
Ich glaube, das sechste Mal ist nicht richtig. Ich hatte an diesem Nachmittag zu reden bei einer Vereinigung, die sich mit innovativen Fragen beschäftigt, und gesagt, mit der Agenda 2010 ist auch politisches Schicksal verbunden. Das war keine Rücktrittsdrohung, sondern der Hinweis darauf, dass es mir sehr ernst ist bei der Durchsetzung dessen, was sich mit der Agenda 2010 verbindet. Gelegentlich ist es notwendig deutlich zu machen, wie ernst einem eine Frage ist, um das Maß an Geschlossenheit und Disziplin einzufordern, was es in der Politik braucht.
Die Frage war, warum sechs Mal, und jetzt schenke ich Ihnen einmal - warum fünf Mal?
Es war wirklich nötig in einer Situation, in der es ja auch Widerstand gegen die Agenda 2010 gab, darauf hinzuweisen: hier ist etwas sehr Notwendiges fürs Land, das ist Kern der Politik. Ich finde, Ernsthaftigkeit zum Ausdruck zu bringen, ist nichts Schlechtes.
Es ging wirklich nur um die Frage der Häufigkeit, weil das Mittel sich verbraucht.
Das kann sein, aber gelegentlich muss man auch Nachdruck entfalten.
Ein boshafter Mensch aus der Medienbranche hat mir gesagt, na ja, aus so einer Drohung wird dann eine Mitteilung und irgendwann wird´s ein Versprechen. Man muss aufpassen, wenn man es fünf oder sechs Mal tut.
Keine Frage, aber es ist ja auch verstanden worden, wie ernsthaft das politische Vorhaben ist, nicht nur damals, auch auf dem Parteitag der SPD.
Als Sie vor der Wahl zum Bundeskanzler 1998 und verstärkt danach der "Genosse der Bosse" genannt wurden, hat Sie das gekränkt?
Nein, das hat mich nicht gekränkt. Zu denen vernünftige Beziehungen zu haben, die in der Wirtschaft tätig sind, war und ist notwendig. Ich habe gerade in diesen Bereichen sehr viel ordentliche Leute getroffen, die ihren Job und ihre Fürsorgepflicht für die Mitarbeiter ernst nehmen. Ich hab gelegentlich auch andere getroffen, wie in der Politik auch.
"Genosse der Bosse" bezeichnet nach meinem Verständnis etwas anderes als die selbstverständliche Pflichterfüllung eines Kanzlers, mit der Wirtschaft möglichst gute Beziehungen zu unterhalten.
Sie mögen Recht haben, mich hat Wirtschaft immer selbst interessiert, so dass es auch eine Nähe aus Interesse gibt.
War es so, dass dabei auch das sehr verständliche, sehr erlaubte Gefühl eine Rolle spielte: ich habe es zu etwas gebracht? Es gibt einen mich sehr anrührenden Satz in der alten SPD-Klientel: die Kinder sollen es einmal weiterbringen.
Ich kann das nicht ausschließen, ich hab darüber nie nachgedacht. Wenn Sie denn schon eine klare Antwort wollen - natürlich bin ich auch stolz auf das, was ich auf meinem Lebensweg geleistet habe. Ich habe es alles selber gemacht, mir hat keiner was geschenkt.
Rauchen Sie noch?
Ja, sicher.
Es hat nachgelassen, dass der "Genosse der Bosse" mit dicker Zigarre und todchicer Garderobe - fast zum Selbstverlieben - in der Öffentlichkeit auftritt. Nach der Wahl 1998 haben Sie sich ganz erkennbar darin gefallen, fast schon zu demonstrieren: ich bin oben angekommen, ich bin der Genosse der Bosse, ich bin selbst ein Boss - das haben Sie ein bisschen zurückgenommen.
Das habe ich nicht.
Doch Sie haben es schon.
Nein, es ist selbstverständlich geworden ...
... aber Sie haben gern diese dicken Zigarren ...
... vorgeführt? Nein. ich glaube, das spielt keine Rolle. Aber ich will Ihnen gern diese Geschichte mit dem berühmten Anzug erzählen. Das war ein Fehler, aber den habe ich gemacht aus Sympathie für einen Fotografen, den ich hoch schätze. Deswegen stehe ich auch dazu.
Die Politiker, auch Kanzler Schröder, sagen heute sehr oft, es musste erst ganz böse kommen, bis die Menschen begriffen haben, dass es sich ändern muss
Nicht böse kommen ...
Gut, dass es erst ganz ernst werden muss.
Ich glaube, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir eine wohlhabende Gesellschaft sind. Vielleicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte haben gottseidank sehr viele Menschen, die aus kleineren Verhältnissen kommen, daran teil. Das will man festhalten. Man lässt erst los, wenn man spürt, dass es notwendig ist, um zu erhalten, was man erreicht hat.
Meine Frage, zu der ich wollte, ist: wie lange hat Gerhard Schröder gebraucht, bis er es begriffen hat?
Ich kann Ihnen das gar nicht mit Monaten oder Tagen bezeichnen. Das ist ein Prozess, gar keine Frage, aufgezwungen auch durch Veränderungen in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Wir haben in den neunziger Jahren im Einigungsboom verständlicherweise ökonomisch das Eine oder Andere falsch gemacht und zu lange ausgeruht. Ich will gern einräumen, dass wir in der ersten Legislaturperiode, obwohl wir begonnen haben, etwas zu tun - Stichwort Rente -, es nicht mit dem Nachdruck getan haben, wie es vielleicht hätte sein müssen.
Skeptiker haben vorhergesagt, dass der EU-Stabilitätspakt von nationalen Regierungen gebrochen wird, wenn diese Regierungen - ich gucke jetzt auf niemanden speziell - das Gefühl haben, dass sie ihn im Interesse ihrer Politik vorübergehend brechen müssten. Diese Skeptiker haben nicht Unrecht gehabt, wie sich zeigt. Wünscht sich Gerhard Schröder manchmal, er wäre lieber ein kluger Skeptiker als ein Macher?
Nein, erstens haben wir den Stabilitätspakt nicht gebrochen - und ich wünsche mir wirklich nicht, jemand anderes zu sein, als ich bin.
Sie sind gern Bundeskanzler?
Ich bin das, ich hab das gewollt und darum gekämpft, ich mache diese Arbeit gern. Ich würde nie mehr den Begriff - sie macht Spaß - gebrauchen. Aber sie macht immer noch mehr Freude, als dass sie Belastung wäre.
Ich gehöre zu einem Freundeskreis von vier Menschen. Einer von uns ist reich, ein erfolgreicher Unternehmer. Zwei sind Rentner, der vierte, als der ich mich bekenne, empfindet sich als wohlhabend. Die Zukunft beiseite gelassen - die bisherigen Reformen treffen im Großen und Ganzen die beiden Rentner, nicht den Reichen, nicht mich Wohlhabenden. Was ist an dieser Feststellung falsch?
Daran ist falsch, dass Sie auch getroffen werden, Sie wissen es offenbar nicht oder spüren es nicht, weil Sie wohlhabend sind. Aber wenn Sie sich das anschauen, es geht ja da um Gesundheitspolitik, um Steuerpolitik. Dann ist natürlich derjenige, der von seiner Lebenssituation her weder wohlhabend noch reich ist, eher spürbar getroffen als der andere.
Entschuldigen Sie, das ist jetzt wirklich eine Banalität. Was Ihnen vorgeworfen wird oder einfach nur festgestellt wird von mir ...
... aber das muss ja nicht richtig sein, wenn Sie es feststellen.
Nein, keineswegs. Aber der Punkt ist doch, spüren tun es die Schwachen, und die Reichen merken es weniger.
Ja genau, aber das Problem ist doch, wenn ich Belastungen zumute, zum Beispiel über das Steuersystem durch die Progression, dann wird dadurch natürlich der Reiche mehr belastet als derjenige, der nicht reich ist. Nur Sie können in einer Gesellschaft wie unserer nie ganz verhindern, dass es derjenige, der weniger hat, eher spürt, wenn Sie ihn auch belasten müssen.
Definieren Sie bitte Solidarität.
Solidarität ist, dass derjenige, der wohlhabend oder reich ist, im Verhältnis zu dem andern mehr zu tragen hat. Das versuchen wir durchzusetzen, aber Sie können sich diesem Ziel immer nur annähern.
Die Solidarität ist ja nicht einmal eine sozialdemokratische Erfindung, sondern die Sozialdemokraten haben sie besonders gepflegt als einen Wesenskern ihres politischen Bewusstseins. Sie bleibt möglicherweise auf der Strecke, wenn eine Gesellschaft wirtschaftspolitisch so ausgerichtet wird, dass sie global mithalten kann. Kann es sein, dass die Solidarität nicht mehr leistbar ist?
Das kann nicht sein, und das darf nicht sein. Es wird immer sehr unterschiedlich sein, was es in einer bestimmten historischen Phase bedeutet. Solidarisch zu sein, heißt doch, unter den obwaltenden Bedingungen möglichst viel an gerechter Verteilung hin zu bekommen, dazu muss aber erst einmal produziert worden sein. Solidarität heißt heute vor allem, Teilhabe an Lebenschancen - heißt, über eine solidarisch angebotene Bildung unabhängig vom Elternhaus die Chance zum Studium zu haben.
Worin wird sich die deutsche Arbeitswelt nach den anstehenden einschneidenden Veränderungen des Sozialstaates im Prinzip noch von der amerikanischen unterscheiden?
Oh, sehr stark. Wir werden immer - und darauf werden wir auch achten - eine sehr viel sicherere Balance zwischen Flexibilität auf der einen und Sicherheitsbedürfnissen, die wir respektieren, auf der anderen Seite haben. Das wird sich auch in Deutschland nach wie vor im Arbeitsrecht abspielen, das wird sich in den sozialen Sicherungssystemen abspielen. Ich glaube nicht, dass in Deutschland, auch in Westeuropa nicht, einfach die Verhältnisse aus Amerika übertragen werden können. Selbst wenn man es wollte, stieße sich das an einer völlig anderen gesellschaftlichen und politischen Kultur. Und es ist gut so, dass es so ist. Deswegen habe ich keine Angst vor einer Amerikanisierung im totalen Sinne. Im Übrigen - die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft, die Bereitschaft, Risiken einzugehen - einen Teil davon könnten wir ganz gut brauchen. Dann wäre es besser möglich, den anderen Teil, auf den die gern verzichten und den wir in einem umfassenden Sinne mit sozialer Sicherheit bezeichnen, auch in Zukunft finanzierbar zu halten. Ich bewundere schon diese unglaubliche Dynamik in der amerikanischen Gesellschaft - die, gepaart mit dem, was wir unter Sicherheit verstehen, das wär´s eigentlich.
Definieren Sie bitte Gerechtigkeit.
In der Gesellschaft heißt das gerechte Verteilung, die nie Gleichmacherei sein wird oder Gleichheit aller Individuen - das ist ein Traum, den ich auch mal hatte. Aber das ist vor allen Dingen gerechter Zugang zu den Bildungschancen - das ist das A und O jedenfalls für Leute wie mich.
Die Sozialdemokraten galten einst als vaterlandslose Gesellen, weil sie die internationale Solidarität der Schwachen über das Nationale stellten. Macht heute die Globalisierung manche Unternehmer zu vaterlandslosen Gesellen?
Die betriebswirtschaftlichen Zwänge verführen dazu, die Produktion auszulagern in Billiglohnländer ...
... wenn man sie halten will, muss man selbst ein Billiglohnland werden.
Nein. Es gibt diese Zwänge, aber man muss schon genauer hingucken. Es gibt sicher in den Unternehmen auch Leute ... wir haben gerade ein Interview gelesen - ich hab mich darüber empört - über Menschen, die hier Subventionen kassieren und sich dann in die Schweiz davon machen, weil sie da die Erbschaftssteuer sparen können. Ich würde nicht von vaterlandslosen Gesellen reden - aber das ist nicht gerade sehr verantwortlich. Nur denen, die betriebswirtschaftlichen Zwängen folgen und folgen müssen, denen kann man nicht Mangel an Patriotismus vorwerfen. Man muss nur sehr genau hinsehen, was sind die Zwänge - wo werden sie nur behauptet. In einem Land, in dem man eine relativ gute innere Sicherheit, gute Schulen, eine gute Infrastruktur nutzt, in diesem Land muss man auch bereit sein, sich über das betriebswirtschaftlich Einfache hinaus zu engagieren.
Ist das Machen von Politik gelegentlich damit verbunden, nicht gegen besseres Wissen, aber gegen eigene Zweifel, Entscheidungen zu treffen, weil sonst die Maschine nicht läuft?
Das kann es geben gegen eigene Zweifel. Sie müssen immer abwägen, wann Sie eine Entscheidung, die in einer Fraktion oder einem Parteivorstand getroffen wurde, noch tolerieren können, und wann Sie sagen müssen: Bis hierher und nicht weiter.
Sie haben gesagt, ich will nichts anderes sein als ich bin: Bundeskanzler, und jetzt gesagt: Macher.
Da hat weniger mit dem Amt zu tun, sondern eher mit der Person. Ich bin auch ich ohne das Amt.
Skeptiker sagen, es gibt eine bösartige soziale Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist und sich über viele Jahrzehnte erstreckt, und dann wird es eine grundlegende Änderung geben. In dieser Situation, sagen solche Schlaumeier, ist die Verlangsamung der Entwicklung das Humanste, was man tun kann. Ein Macher darf sich nicht erlauben, das zu denken?
Er darf sich erlauben, das zu denken, aber wenn er beginnt, daran zu glauben, macht er einen Fehler. Ich glaube an die Vernunft von Menschen und ihre Fähigkeit, mit Herausforderungen fertig zu werden, und ich will einen Beitrag dazu leisten. Ob er je ganz erfolgreich sein wird, das werden weder Sie noch ich vorausbestimmen können. Wenn Sie meine Seelenlage schon ausforschen wollen, dann würde ich mich auf solche Skeptizismen nicht einlassen wollen.
Unter welchen Umständen würden Sie den Bettel hinschmeißen, Herr Bundeskanzler?
Ich kann den Bettel nicht hinschmeißen, das darf ich nicht. Ich bin dazu gewählt worden, das zu machen, was ich jetzt tue. Und Bettel hinschmeißen war nie eine Charaktereigenschaft, die ich für mich für möglich gehalten hätte.
Gekürzte Fassung des Interviews, das in der Reihe Zur Person am 26. 11. 2003 vom RBB ausgestrahlt wurde.
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