„Ich bin der Anwalt dieser Menschen“

Porträt Claus-Peter Reisch war nie Aktivist und hat doch die Mission Lifeline groß gemacht. Horst Seehofer gibt er heute die Hand
Ausgabe 42/2019

Im großen Saal der Kölner Sparkasse werden Sekt und Fingerfood gereicht. Claus-Peter Reisch, eben noch auf der Bühne, ist nun von einer Menschentraube umgeben, jeder will mit „dem Kapitän“ sprechen, ihm gratulieren: Henriette Reker, die Kölner Oberbürgermeisterin, die vor ein paar Jahren wegen ihrer flüchtlingsfreundlichen Politik Opfer eines Anschlags geworden ist, Norbert Blüm, CDU-Urgestein, der 2016 ein Flüchtlingslager im griechischen Idomeni besuchte, und der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sind da. Und solche, die sich in lokalen Vereinen engagieren. Für sie ist der Kapitän der Mission Lifeline einer, der sein Leben riskiert, um andere zu retten, der verhindert, dass Europa dem Humanismus den Rücken kehrt. Ein Held.

Fünf Tage bevor der Skipper im April dieses Jahres den Lew-Kopelew-Preis für Menschenrechte erhält, muss er sich als Krimineller verantworten. Er sitzt auf einer der Zuschauerbänke in einem dunklen, mit Holz vertäfelten Raum im Gericht von Valletta, Maltas Hauptstadt. Zu viele Menschen haben sich in den kleinen Gerichtssaal gedrängt, reden durcheinander. Der Richter versucht erst gar nicht für Ruhe zu sorgen, während er zuerst einen jungen Mann, der wegen Drogenhandel angeklagt ist, verhört – dann eine Frau wegen Diebstahl. Reisch starrt auf sein Handy, er wirkt unbeteiligt, stoisch. Als ginge es hier gar nicht um ihn. Er kennt die Abläufe, weiß, dass es noch dauern kann, bis er an der Reihe ist. Es ist das siebte Mal in neun Monaten, dass er nach Valletta geflogen ist, um vor Gericht auszusagen. Fünfmal hat das Gericht die Verhandlungen zum Teil erst während des Prozesses vertagt. Für Reisch eine Farce. „Der Prozess gegen mich ist ein Mittel zum Zweck, um das Schiff Lifeline am Auslaufen zu hindern. Aus diesem Grund hat auch die Anklagebehörde das Verfahren entsprechend lang hingezogen.“

15 Monate liegt das Schiff nun im Hafen von Valletta. Reisch wird vorgeworfen, die Lifeline nicht ordnungsgemäß registriert zu haben. Es war das erste Schiff, das im vergangenen Sommer tagelang auf dem Mittelmeer ausharren musste, bevor sich Länder der EU auf eine Verteilung der geretteten Flüchtlinge einigten. Zuletzt konnte man das bei Carola Rackete, der Sea-Watch-Kapitänin, erleben. „Sie hat in der richtigen Situation das Richtige getan“, erklärt Reisch, wenn man ihn heute nach Rackete fragt. Obwohl beide Ähnliches erlebt haben, trennen sie Welten.

Forderungen wie jene, alle Migranten direkt aus Libyen aufzunehmen, hält er für unrealistisch. Außerdem setze er sich lieber mit Politikern an einen Tisch, statt sie verbal anzugreifen. „Wir haben da doch sehr unterschiedliche Denkweisen.“ Als die Lifeline Ende Juni 2018 in den Hafen von Valletta einlaufen darf, wird das Schiff beschlagnahmt, er noch am selben Abend verhört.

Anfangs drohte ihm bis zu ein Jahr Gefängnis, später wird Reisch zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Mission Lifeline hat Berufung eingelegt.

Reisch polarisiert. Er wurde schon lange vor Carola Rackete zu einer Symbolfigur in der Auseinandersetzung um zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Wenn man ihn länger begleitet, merkt man: Claus-Peter Reisch ist nicht der typische Aktivist.

Wenn er auf Bühnen steht, dann meist in Anzug, zumindest im Hemd, mit aufgenähtem Lifeline-Logo. Der seriöse Auftritt sei ihm wichtig. Wo Reisch auch hinkommt, jeder scheint bereits eine Meinung von ihm zu haben. Selbst in seinem Heimatort, Landsberg am Lech, begegnen ihm Menschen, die ihn erst Helden und kurz darauf Oberschlepper nennen. Auch bei den eigenen Leuten, den Seenotrettern, ist der Bayer nicht unumstritten. Er hängt sich mit Forderungen lieber nicht zu weit aus dem Fenster, will sich mit keiner politischen Linie gemeinmachen, er nennt sich konservativ und schlägt manchmal einen rauen, befehlerischen Ton an.

Anfang Juni 2018, Mittelmeer. Es dämmert noch, als Reisch und seine Crew zwei Schlauchboote entdecken, die immer mehr Luft verlieren. Die Menschen sind gerade gerettet, da nähert sich ein weißes Patrouillenboot, bremst wenige Meter vor ihnen ab. Zwei Männer in hellblauen Hemden springen aufs Deck der Lifeline. Libyer. In den Gesichtern der 235 Flüchtlinge steht Angst. Reisch hat in seinem Leben schon viele Verhandlungen geführt. Keine hat einen so hohen Einsatz gefordert. Als Kapitän ist er für die Crew und die 235 Flüchtlinge, die er „Gäste“ nennt, verantwortlich. „Ich bin in diesem Moment der Anwalt dieser Menschen.“

Mit Handschlag begrüßt er den Kapitän der libyschen Küstenwache, der darauf beharrt, die Flüchtlinge an Bord seines Schiffes zu nehmen. Reisch verweist auf ein weiteres Schlauchboot, das noch immer da draußen sei, dann wird er ernst, sein Kopf läuft rot an, er kommt auf die Genfer Flüchtlingskonvention zu sprechen: Er könne die „Gäste“ nicht übergeben, er würde sich strafbar machen. Die Männer ziehen irgendwann genervt ab. So beschreibt es Reisch in seinem gerade im Riva Verlag erschienenen Buch Das Meer der Tränen.

Starnberger See und Afrika

Es ist eher Zufall, dass dieser Mann, groß geworden in einem bürgerlichen Haushalt in München, zum Aktivisten wird. Er wächst als Sohn eines Werkzeugmachers und Sanitärtechnikers auf und teilt mit seinem Vater die Begeisterung für Technik. Er sei ungern zur Schule gegangen, erzählt Reisch bei einem unserer Treffen zwischen Malta und Deutschland.

Seit ein Schulfreund ihn mal zum Segeln mitgenommen hat, verbringt er die Vormittage lieber auf dem Starnberger See, hilft im Segelklub aus. Er schwärmt für Motorräder, macht eine Lehre zum Kfz-Mechaniker, jobbt auf dem Bau. Dann lässt sich Reisch im Betrieb seines Vaters ausbilden. Als er Mitte 20 ist, tourt er vier Monate lang mit dem Motorrad durch Afrika, lernt Menschen kennen, „die nichts haben und das trotzdem mit dir teilen“. Er sieht, wie Meere leer gefischt, Edelmetalle von ausländischen Firmen abgebaut werden.

30 Jahre lang leitet Reisch eine Industrievertretungsfirma für Heizungs- und Sanitärbedarf, er arbeitet 14 Stunden am Tag. Das Geschäft läuft gut, der Stress setzt ihm zu. 2008 verkauft er seine Firma, um mehr Zeit für sich und seine Lebensgefährtin zu haben. Im Winter macht er Skilanglauf, im Sommer segelt er über das Mittelmeer.

Es ist 2015, das Jahr, in dem sich so viele Flüchtlinge nach Europa aufmachen. In den Häfen von Kalabrien sieht Reisch, was von ihrer Flucht übrig bleibt: abgewrackte Fischerboote, darin Schwimmwesten, Flipflops, Puppen. Was, wenn er so einem Boot begegnen würde? Müsste er den Menschen beim Sterben zusehen, weil er sie nicht alle wird retten können? Reisch lebt beschaulich, in einem Haus in Bayern, er fährt drei Autos, besitzt eine Segelyacht. Jahrzehntelang hat er CSU gewählt, eine Partei, von der er immer wieder enttäuscht wurde. Die Amigo-Affäre, die Flick-Affäre – immer wieder Korruption. Das geht gegen seinen Gerechtigkeitssinn.

2017 fährt er seine erste Mission. 2018 stößt er zur Mission Lifeline. Reisch ist schnell mehr als nur Kapitän, er wird zum Macher, Organisator, gewinnt Großspender wie Udo Lindenberg, den Kabarettisten Urban Priol oder den Schmierstoffhersteller Liqui Moly. Die Prozess- und Anwaltskosten, die auf die Mission Lifeline zukommen, als das Schiff längst nicht mehr auslaufen darf, werden vor allem von den Spenden von Kardinal Reinhard Marx und jenen, die durch einen Aufruf von Jan Böhmermann zusammenkommen, beglichen. Trotz allem: Ohne Schiff ist Reisch nach seiner Anklage aufgeschmissen.

Statt an Deck der Lifeline sitzt er Anfang April auf der Rückbank eines alten weißen VW-Busses, der sich nach dem Prozesstermin durch die engen, kurvigen Gassen der Altstadt von Valletta quält. Wieder gibt es keine Entscheidung. „Eigentlich hab’ ich für den Schmarrn gar kei’ Zeit, mein Terminkalender platzt“, sagt Reisch genervt. Stillstand ist für ihn unerträglich, so steht er in den Monaten nach der Beschlagnahmung bei jeder Gelegenheit auf Bühnen, schüttelt Politikerhände und lächelt in Fernsehkameras.

Behäbig schiebt sich der Bus durch den maltesischen Verkehr und bremst vor dem Terminal. Reisch schlüpft in seine Jeans, hängt Krawatte, Sakko und Anzughose in den Kleidersack, der am Haltegriff des VW baumelt. Er muss den Flug nach München bekommen, will abends in Landsberg sein. Immer seltener schläft er zu Hause, seine Lebensgefährtin sieht er kaum noch.

Anfang dieses Jahres wurde ihm alles zu viel. Der Prozess zehrte an seinen Kräften, gleichzeitig lag seine Mutter im Sterben. Reisch zog sich zurück. Aber nur kurz. Dann hielt er wieder Vorträge an Schulen, tourte mit seinem Dokumentarfilm Die Mission der Lifeline durch die Kinos, organisierte eine Demonstration aus Segelbooten auf dem Mittelmeer. Richard, Maschinist der Lifeline, nennt Reisch einen „Dauerläufer“, einen, vor dem er Hochachtung hat, weil er für die Mannschaft vor Gericht den Kopf hinhalte. Er habe das Talent, Menschen zu erreichen, sagt Axel Steier, Vorsitzender des Vereins Mission Lifeline.

Geldstrafe, wenig Spenden

Aber nicht jeder fühlt sich von Reisch ernst genommen. Manchmal habe er Entscheidungen im Alleingang getroffen, habe darauf bestanden, dass „gegessen wird, was auf den Tisch kommt“, auch wenn manche sich vegan ernährten. Immer wieder habe er auf „linke Spinner“ und ihren „blinden Aktionismus“ geschimpft. Reisch kann Leute vor den Kopf stoßen, aber sie wissen, was sie an ihm haben.

Ende August dieses Jahres verlässt das Sportboot Eleonore unter deutscher Flagge den spanischen Hafen – nach acht Tagen sitzt es fest. Reisch war, trotz Verbots, mit 104 Migranten an Bord in den Hafen von Pozzallo auf Sizilien eingelaufen. An Land warten ein bisher nicht rechtskräftiger Strafbescheid über 300.000 Euro und womöglich 20 Jahre Freiheitsstrafe wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“. Nach einem Monat sind bei seiner Crowdfundingkampagne 22.000 Euro zusammengekommen, das deckt noch nicht mal ein Zehntel der Geldstrafe. Fast eine Million Euro konnte dagegen Carola Rackete sammeln, die Kapitänin. Die Spenden, so Sea-Watch, sollen mit anderen Hilfsorganisationen geteilt werden. Bei ihm habe sich bisher niemand gemeldet, sagt Reisch. Auch Lifeline habe die Möglichkeit, einen Antrag an das Gremium zu stellen, erklärt Ruben Neugebauer, Sprecher von Sea-Watch.

An einem Abend Ende April ist Reisch in Bayern gerade auf dem Heimweg, als er hört, dass bei einer CSU-Veranstaltung im Nachbardorf ein Ehrengast erwartet wird. „Grüß Gott, Herr Seehofer“, grüßt er den Innenminister später mit Handschlag, er hatte ihn früher als „Täter“ beschimpft, der vor Gericht gehöre, weil er Flüchtlinge ertrinken lässt. Jetzt lässt er sich zu einem Gespräch nach Berlin einladen, wird davon erzählen, dass er Seehofer ganz anders kennengelernt habe. Reisch ist auch Stratege.

Was treibt ihn an? Nicht das Christentum, sondern das „Bayerische Prinzip“, sagt er: Leben und leben lassen, weg von der Ellenbogengesellschaft, hin zu den eigentlichen Werten, den Nachbarn wieder mehr respektieren, eine Rettungsgasse bilden, wenn der Krankenwagen durchmuss. Die kleinen Dinge.

Lena von Holt beschäftigt sich als freie Autorin vor allen Dingen mit europäischen Themen

Minimallösung von Malta

Die Verteilung von Flüchtlingen, die aus der Seenot im Mittelmeer gerettet wurden, ist in der EU höchst umstritten. Rettungsschiffe mussten in den vergangenen Monaten immer wieder tagelang im Mittelmeer ausharren, weil Malta und Italien die Einfahrt in ihre Häfen verweigerten. Sie forderten, dass andere EU- Staaten vorab zusicherten, die geretteten Migranten aufzunehmen.

Im September dieses Jahres hatte sich Bundesinnenminister Horst Seehofer in Malta mit Italien, Malta und Frankreich auf eine Grundsatzeinigung zur Seenotrettung verständigt. Migranten, die gerettet werden, sollten nicht mehr wie bisher tage- und wochenlang auf Rettungsschiffen festsitzen, weil Italien und Malta ihnen die Einfahrt in die Häfen verwehren. Stattdessen sollten sie in der Regel in Italien und Malta an Land gehen und innerhalb von vier Wochen auf die teilnehmenden Länder verteilt werden. Einen festen Verteilmechanismus für Migranten, die aus dem zentralen Mittelmeer gerettet werden, gibt es allerdings weiterhin nicht. Es bleibt eine Minimallösung. Ein EU-Innenministertreffen, auf dem Seehofer noch weitere Länder von der Teilnahme an einem europäischen Verteilmechanismus überzeugen wollte, blieb ohne Resultate.
Es schloss sich kein Staat offiziell der Einigung an.

In seiner eigenen Partei, der Union, wurde Seehofer für seinen Vorstoß teilweise hart kritisiert. Die Debatte in Deutschland darüber sei angesichts der niedrigen Ankunftszahlen „eigentlich beschämend“, verteidigte er sich. Er machte aber klar, dass er aus dem Abkommen aussteigen werde, wenn die Flüchtlingszahlen sprunghaft anstiegen. LVH

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