Erich Fromm war sein psychoanalytischer Lehrer. Er war sein letzter Assistent. Nun praktiziert er als Psychoanalytiker und literarischer Nachlassverwalter Fromms in Tübingen. Sicher ist es dieser Hintergrund, warum dem 1943 geborenen Rainer Funk in seinem Buch über die Psychoanalyse des postmodernen Menschen ein präziser Einblick in die hintergründigen Entfremdungen der Menschen von heute gelingt, die sich in ihrer Charakterstruktur deutlich von den autoritär orientierten Menschen unterscheiden, durch den die Nachkriegsgeneration im Elternhaus und in der Schule erzogen worden ist.
Die Kritik der westeuropäischen 68er an den autoritären Charakteren der Elterngeneration hat offensichtlich den postmodernen Ich-Orientierten Charaktertypus erst möglich gem
;glich gemacht. Die heutigen postmodernen Ich-Orientierten, die Rainer Funk in die Aktiven und Passiven differenziert, sind Macher (aktiv) oder Nutzer (passiv) eines "gemachten" Vermögens, das sie entweder ganz aktiv mitentwickeln und betreiben oder passiv nutzen. Das "gemachte" Vermögen kann das Handy, das Internet, der Kommunikationskurs, der Kunde, die Rhetorikschulung, der Platz in der Firmenhierarchie sein, also alles das, was von anderen gemacht und zelebriert wurde. Es ist, anders als das "menschliche" Vermögen, dem Menschen immer äußerlich. "Statt vom Gebrauch der eigenen Fertigkeiten", so Funk, "wird das Ich-Erleben vom Gebrauch der Fertigkeiten seiner Produkte her definiert. Das Vermögen der vom Menschen erfundenen und hergestellten Maschinen und Techniken - das technische Vermögen - hat das menschliche Vermögen auf so gut wie allen Ebenen überholt".In seinem Buch konstruiert der Autor keine Feindschaft des Menschen zum Mysterium Technik, sondern er entwickelt mit sehr einleuchtenden Beispielen, wie die Entfremdung des postmodernen Ich-Orientierten uns im Alltag im anderen Menschen, aber auch in uns selbst begegnet: Der aktive postmoderne Mensch inszeniert seine eigene Welt. Eine objektive Wirklichkeit mit inneren Widersprüchen existiert für ihn nicht. Er ist immer "gut drauf", denkt stets positiv, ist überaus tolerant, erträgt Kritik allerdings nicht gut, sondern fährt lieber mit Kritik und Zynismus anderen in die Parade. Durch sein Lebensmotto: "Ich orientiere mich nur an mir, und keiner hat mir zu sagen, wer ich bin. Ich bin, der ich bin. Ich selbst kann und will auch nicht definieren, wer ich bin", entfremdet sich der Ich-Orientierte von echter Bezogenheit zum anderen Menschen. Ein Wir ist für ihn nicht das Ergebnis von Beziehungen, sondern von "Kontaktpflege". Er reagiert allerdings - und das ist für den Autor das Zeichen unbewussten Leidens -, indem er "gemachtes" Vermögen nutzt, um die eigenen Ängste, die ihm die Wirklichkeit verursacht, vor sich selbst zu verstecken. Mit seinem lässigen Hinweis, alles "im Griff zu haben", will er seine Ängstlichkeit verstecken.Der postmoderne Mensch mimt nach Funk den Souveränen. "Jeder habe das Recht, seine Art zu leben frei und selbstbestimmt zu wählen. Begründet wird dieses Recht damit, dass Wirklichkeit immer Konstruktion sei. Der postmoderne Ich-Orientierte ist jener Charakter der definitiv keinen klar konturierten Charakter hat". Dieser Typus lebt scheinbar locker und frei. Anders als der autoritäre Charaktertyp der Kriegsgeneration braucht der postmoderne Ich-Orientierte keine Autorität, an die er sich hängt, er hat schließlich sich und seine selbstinszenierte Wirklichkeit, die allerdings in dem Moment in Scherben fällt, da das "gemachte" Vermögen sich seinem Zugriff entzieht.Der passiv Ich-Orientierte nutzt die Dinge, Schulungen, Bildungsprogramme, die der aktiv orientierte ihm auf dem Markt anbietet. Entfremdet, so der Autor, sind sie gleichermaßen von ihrem "menschlichen Vermögen". Wer nur durch Handy, Internet, Auto, Fernreisen, Kontaktpflege, Rhetorik, Events oder durch seine Position im Arbeitsleben sein Ich zu inszenieren wusste, falle in tiefe Depression, wenn diese Objekte durch Stromausfall, Krankheit, Geldmangel oder Insolvenz sich von ihm entfernen. Sowohl der aktive, wie der passiv Ich-Orientierte der Postmoderne sind deshalb "unproduktive" Menschen. Nur wer aus seinem "menschlichen" Vermögen schöpft, kann seine körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte zur vollen Entwicklung führen. Funk nennt diesen Menschentyp einen "produktiv Postmodernen". Nur der produktive Mensch gelangt zu "produktiver Vernunft (womit er die Fähigkeit zu einer realitätsgerechten Wirklichkeitswahrnehmung meint), produktiver Liebe (die Fähigkeit zu liebender Bezogenheit bei Wahrung der Unabhängigkeit) und zu produktiver Arbeit (die Fähigkeit zu schöpferischem Handeln)."Vernunft und Liebe sind für den Ich-Orientierten Menschen allerdings antiquierte Begriffe. Er mag nicht die schwachen und ängstlichen Menschen. Mitleid und Fürsorge sind im fremd. Schließlich will der Ich-Orientierte der Macher sein. Dieser Typus Mensch begegnet uns in den Chefetagen, den Sendeanstalten von SAT1 oder RTL, wo er sich scheinbar mit seinen, natürlich im Team entwickelten, smart formulierten Entscheidungen, scheinbar nicht an die Sachzwänge der kapitalistischen Produktion orientiert, sondern an seinen eigenen Inszenierungen von Wirklichkeit, an deren Scheitern in der tatsächlichen Wirklichkeit selbstverständlich aber stets andere - Mitarbeiter, Markt, die Konkurrenz oder Zulieferer - die Schuld zugeschoben bekommen.Mit diesem Buch ist ein sehr trefflicher Einstieg gelungen, die Veränderung des Charakters, die wir in jedem Büro, aber auch auf jedem Schulhof beobachten können, im Zeitalter einer kapitalistischen Entwicklung zu studieren, in der es kein Eigentum, sondern nur noch lockere und von Innovationseifer erfüllte Macher zu geben scheint. Der Autor betont seinen psychoanalytischen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung. Aber er wäre kein Schüler von Erich Fromm, wenn er nicht die kapitalistische Ökonomie und das damit verbundene "gesellschaftlich Unbewusste", das jeden einzelnen von uns zu prägen sich bemüht, als Basis der persönlichen Entfremdungen des postmodernen Menschen erkennen würde. Dennoch schließt sein Buch mit trefflichen Hinweisen, wie sich der einzelne Mensch als "produktiver" Mensch, trotz aller gegenteiliger Forderungen der kapitalistischen Ökonomie, entwickeln kann. "Wer in produktiver Weise auf sich und die Wirklichkeit bezogen ist, der nimmt wahr, dass ihm aus dieser Art, bezogen zu sein, Energie zufließt; er spürt eine Fülle des Lebens, möchte überfließen und entwickelt ein Bedürfnis zu geben, zu teilen und mitzuteilen. Eine produktive Charakterorientierung fördert die Sozialität des Menschen." Das würde der Geheimrat Goethe sofort mit dem Satz bestätigen: "Nichts ist drinnen, nichts ist draußen. Denn was Innen, das ist außen."Rainer Funk: Ich und Wir - Psychoanalyse des postmodernen Menschen. Dtv, München 2005, 260 S., 15 EUR
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