Ich bin kein Buch, dessen Inhalt man anzweifelt

Einer der Letzten Der Auschwitz-Überlebende Noah Klieger aus Israel sprach erstmals mit deutschen Schülern über die Wunder, die Gott ihm bereitete

Adornos berühmtes Verdikt, nach Auschwitz könnten keine Gedichte mehr geschrieben werden, ist längst widerlegt. Doch auch wenn die NS-Vernichtungslager außerhalb jedes Vergleichs stehen, so bleibt es für alle Überlebenden eines Lagers eine Herausforderung, das zu überliefern, was ihnen dort widerfuhr. Der Auschwitz-Überlebende Noah Klieger setzt auf das Mündliche, der GUlag-Überlebende Warlam Schalamow schuf eine "Nicht-Literatur".

Seine Geschichte erzählt Noah Klieger grundsätzlich im Stehen. Was gesagt werden muss, ist aufrecht zu sagen. Den leicht gespannten Oberkörper wie lauschend vornüber gebeugt, auf die Rückenlehne eines Stuhles gestützt, mustert der 81-Jährige aufmerksam sein junges Publikum. Die flinken Augen huschen über die ernsten Gesichter der 15- bis 17-jährigen Gymnasiasten im südbrandenburgischen Treuenbrietzen.

"Ich bin kein Buch, dessen Inhalt man anzweifeln, worüber man diskutieren kann", stellt Klieger die Unantastbarkeit seiner Zeitzeugenschaft klar. "Ich bin der, der dort war." Dort - das ist Auschwitz. Eines von sechs Vernichtungslagern auf heute polnischem Territorium, in denen die Nazis zwei Drittel der damaligen europäischen Juden systematisch ermordeten. Sechs Millionen Menschen. Weniger als 30.000 haben das Grauen überlebt. Noah Klieger, 1926 in Straßburg geboren, ist einer von ihnen.

"Dort". In der Sprache der Überlebenden, die jeder einstige Auschwitz-Häftling versteht, fließt in dem kleinen Adverb all das Unbegreifbare, Unsagbare zusammen, wird lokalisiert und auf Distanz gebracht. Das "Dort" trennt die Dortgewesenen auf immer von der übrigen Welt, ihre Erfahrungen sind nur schwer und nie ganz vermittelbar. Noah Klieger, der 1947 nach Israel aufbrach und Journalist wurde, schreibt und spricht dennoch seit über 60 Jahren in mehreren Sprachen gegen Trennung, Vergessen und Verleugnen an.

Auf Einladung der Potsdamer F .C. Flick-Stiftung, die seit 2001 vor allem in Brandenburg und Sachsen-Anhalt Jugendprojekte zur Förderung "der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens" unterstützt, war Noah Klieger eine Woche lang erstmals in ostdeutschen Schulen unterwegs. "Es ist für mich nicht leicht, zu jungen Menschen zu sprechen, die von damals keine Ahnung haben", gesteht er den Schülern. "Zumal, wenn es sich um Deutsche handelt, auch wenn ihr als Nachgeborene keine Schuld tragt." In diesem Moment, erzählt einer der Elftklässler später, habe er an die Sprachreise nach Großbritannien gedacht, wo es gerade Mode ist, deutsche Jugendliche als "Nazi-Schweine" zu verprügeln und die Videos ins Internet zu stellen. Einigen war dies passiert. Nichts ist vorbei.

Nie habe er eine ausreichende Erklärung dafür gefunden, fährt Klieger fort, wie die Shoah möglich wurde. "Das war ja keine Affekthandlung, sondern ein durchdachtes, organisiertes und fast vollständig ausgeführtes Unternehmen. Es wurde genau berechnet, wie viele Züge und Waggons für den Transport, wie viel Gas, wie viele Krematorien und Gruben für die Asche man benötigen würde für den größten Massenmord in der Geschichte der Menschheit. Was hatten die Juden getan, dass man sie so hassen konnte?" Ungezählte Forscher hätten sich um Antworten bemüht, doch darauf "gibt es schlichtweg keine."

Noah Klieger, Sohn des Journalisten und Autors Bernard Klieger, schließt sich bereits 15-jährig einer jüdischen Untergrundorganisation an, die gemeinsam mit der französischen Résistance etwa 300 jüdischen Kindern und Jugendlichen zur Flucht in die neutrale Schweiz verhilft. Er wurde verraten und 1942 an der französisch-belgischen Grenze verhaftet. Am 18. Januar 1943 erreicht er mit einem Transport von 900 Männern und 700 Frauen die vorgesehene Endstation: Auschwitz-Birkenau. Dass er Oswiecim gegen alle Wahrscheinlichkeit lebend verließ, liege nicht daran, dass "ich kräftig war, leben wollte oder mich in einen geistigen Raum retten konnte", widerspricht Klieger den vielfach in der Zeitzeugenliteratur anzutreffenden Erklärungen für ein Phänomen, das etwa Jean Améry oder Primo Levi, zeitgleich mit Klieger im Lager Auschwitz III Monowitz inhaftiert, in bekannten kontroversen Essays ergründeten. "In Auschwitz konnte man sich das Überleben nicht vornehmen. Ich überlebte, weil Gott Wunder an mir tat."

Das erste widerfährt ihm bereits an der berüchtigten Rampe. Statt die Angekommenen sofort für Arbeitskommando oder Gaskammer zu selektieren, überlässt die SS den Häftlingen, die zwölf Kilometer zum Lager zu laufen oder auf einige wenige Lkw´s zu steigen. "Mein Freund und ich wollten doch nicht laufen; wir kletterten als erste auf die Ladefläche. Dort saß ein serbokroatischer SS-Freiwilliger, der uns anherrschte, wir sollten sofort verschwinden." Die Jungen gehorchen erst, als der Mann sein Maschinengewehr auf sie richtet. Sie marschieren; die Lkw´s mit Müttern und Kindern, Alten und Kranken aber fahren direkt ins Gas. Klieger mustert sein junges Publikum, die Stille im Saal ist regelrecht hörbar. Er will ihnen Details ersparen, spricht allgemein von "entwürdigender Aufnahmeprozedur, dem Entkleiden und vollständigen Enthaaren unter freiem Himmel". Die erste Nacht bei minus 24 Grad im offenen Hangar; ein Drittel der Angekommenen überlebt sie nicht. Einige Schüler schütteln sich, so gegenwärtig sind die Bilder, die Klieger aufruft. Um seine Schilderungen festzuhalten, erweist sich das Präteritum als ungeeignet.

Das zweite Wunder ereignet sich am nächsten Morgen. Die SS sucht unter den "Neuen" nach Boxern. Der Lagerkommandant, SS-Hauptsturmführer Heinrich Schwarz, ist Boxnarr und hält sich eine private Staffel, die ihm jeden Sonntag Schaukämpfe zu liefern hat. "Ich weiß nicht, was mich damals geritten hat, intuitiv die Hand zu heben", schüttelt Klieger noch heute den Kopf. Im Transport sind wirkliche Boxer. Einer von ihnen, den Klieger Sally nennt, hatte ihm in belgischer Gefangenschaft einige Grundkniffe beigebracht. "Wisst Ihr, woran man einen Boxer erkennt? Seht her, niemals die Fußsohle vom Boden heben, die angewinkelten Ellbogen schützen den Magen, die Fäuste das Gesicht." Klieger steht in Boxerhaltung zwischen den Schülern, die ihn fasziniert mustern. "Das hat mich jedenfalls gerettet. Der deutsche Kapo, der die Aufsicht über die Boxerriege hatte, war nicht nur ein am grünen Winkel erkennbarer Schwerverbrecher, sondern auch ein Vollidiot." Klieger tippt sich grinsend an die Stirn, die Gymnasiasten lachen, für einen Moment ist die Vergangenheit gebannt. Dank der besseren Verpflegung für die "Sportler" überlebt Klieger die ersten sieben, acht Monate Lageralltag. "Die Lebenserwartung lag bei drei Monaten."

57.000 der letzten Überlebenden werden am 18. Januar 1945 vor der zurückrollenden Ostfront "evakuiert", weniger als 20.000 überleben den Todesmarsch, bei dem Klieger lernt, "im Schlafen zu gehen oder im Gehen zu schlafen." Er überlebt auch die Arbeit im unterirdischen V-Waffen-Stollen Mittelbau-Dora und einen weiteren Marsch ins KZ Ravensbrück, wo er am 29. April 1945 nach insgesamt 30 Monaten KZ-Haft von der Roten Armee befreit wird. Er ist 19 Jahre alt.

Auch die Eltern überleben Auschwitz, Noah Klieger trifft sie zufällig in der Straßenbahn wieder. Sie werden die einzige jüdische Kernfamilie sein, die den Holocaust überlebt hat.

"Schon im KZ hatte ich mir vorgenommen: Wenn ich hier rauskomme, werde ich Zionist. Die Juden brauchen einen eigenen Staat, um endlich Heimat und Asyl zu finden." Am 11. Juli 1947 besteigt der junge Journalist mit 4.514 anderen Holocaust-Überlebenden im französischen Sète ein Schiff, die Exodus, in Richtung Palästina. Deren Odyssee ist ebenso legendär geworden wie ihre Rolle bei der Staatsgründung Israels. Als Korrespondent für Yedioth Ahronot wird Klieger nicht nur über Sport, sondern auch von allen großen Prozessen gegen die NS-Täter berichten.

Ein vom Vortrag noch sichtlich betroffener Schüler fragt beim Stichwort Israel, wie ein Land, dessen Volk die Massenvernichtung am eigenen Leibe erfahren habe, selbst Massenvernichtungswaffen besitzen und einsetzen könne. Der 81-Jährige hat angesichts dieses Vergleichs Mühe, ruhig zu bleiben. "Hast du mal auf die Landkarte geschaut, wie groß Israel ist und wo es liegt? Was glaubst du, wie lange dieses Land überleben würde, wenn es keine Waffen besäße? Drei Tage!" Aber die Fragen zeige, dass man hier ein falsches Bild von Israel habe, meint Klieger. Das sei angesichts der konfliktfokussierten Berichterstattung auch kein Wunder. Doch Israel sei mehr, verteidigt er sein Land, führend zum Beispiel in der Medizinforschung, in der Literatur, im High-Tech-Bereich ...

Das Unsagbare hat auch Unverzeihbarkeit nach sich gezogen. "Ich hätte mir gewünscht, dass Deutschland nie wieder ein anerkannter Staat würde", sagt Klieger, nach Rachegefühlen befragt. "Und mit euren Großeltern würde ich noch immer kein Wort sprechen." Eine Schülerin wagt Einspruch: "Der Bruder meiner Oma hatte Trisomie 21 und ist im Euthanasie-Programm getötet worden." Klieger geht zwar darauf ein, doch seine Grundhaltung gegenüber dem Tätervolk kann dies nicht ändern. Als die 17-jährige nochmals erklären will, dass es ihr nicht um einen Opfervergleich ginge, sondern darum, dass niemals alle schuldig seien und er bereits vor der vierten Generation stünde, fährt Klieger genervt auf: "Ach, Mädchen, wir reden doch hier nicht über deine Großmutter, du brauchst nicht zu versuchen, sie reinzuwaschen!" Ein verstörender Augenblick für beide, auch ein Missverständnis, das ›Übersetzung‹ gebraucht hätte. Die Schüler sind stiller, stellen Höflichkeitsfragen. Ob sein Leben schon einmal verfilmt worden sei, ob er ein Buch geschrieben habe? Habe er, sagt Klieger entspannter. "Zwölf Brötchen zum Frühstück. Wir hungerten so sehr, dass ich davon träumte, zwölf Brötchen auf einmal zu essen."

Die Stiftungsmitarbeiter bitten zum Aufbruch. Die nächste Veranstaltung in Wittenberg ruft. "Ich habe es eilig", sagt Klieger. "Ich bin einer der letzten."


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