Ich bin mit meiner Angst nicht fertig geworden

MÜTTER GEGEN DEN KRIEG Die Erfurterin Ilona Rothe gab den Anstoß für eine Initiative, die jetzt mit Hilfsgütern in das Kriegsgebiet reiste

Auf vielen Briefen, die sie bekommt, steht nur: An die Soldatenmutter in Erfurt. Hunderte Briefe, tausende Anrufe hat Ilona Rothe in den vergangenen Wochen erhalten, selbst das Fax-Gerät schiebt geduldig ein Blatt nach dem anderen heraus. Das sei fast schon geschäftsschädigend, meint Ehemann und Firmeninhaber Rothe. Denn Kunden, die bei der Spedition Rothe Umzüge buchen wollen, haben derzeit telefonisch kaum eine Chance - das Büro-Telefon ist blockiert und demzufolge die Auftragslage für den Mai mies. Dennoch unterstützt auch er, der Ehemann und Vater, die Initiative, die seine Frau auf den Weg gebracht hat. »Mütter gegen den Krieg« ist inzwischen eine Bewegung geworden, eine, die von den Medien wahrgenommen wird, sich an Politiker wendet, Unruhe stiftet, weil sie in Frage stellt, was andere hinnehmen. Sie hat mittlerweile einen Platz im öffentlichen Raum. Obwohl das alles so unscheinbar angefangen hat, meint Ilona Rothe, zu Hause, im Privaten. Die ersten Bilder vom Krieg, die ersten Nachrichten - der Sohn der Rothes ist als Freiwilliger in Mazedonien, hat sich für den Einsatz der Friedenstruppe gemeldet, und dennoch ist die Mutter beunruhigt. Und dann sieht sie diese Frau im Fernsehen: »Eine serbische Mutter, die gesagt hat, mein Sohn ist eingezogen worden, ich will meinen Sohn nicht verlieren. Und das war der Punkt. Ich hab' die Frau angeguckt, die war in meinem Alter, so eine Brünette. Ich dachte, oh Gott, die hat ja genauso 'ne Angst, der geht's ja wie dir. Im Prinzip wollen die ja gar nicht und müssen trotzdem (...). Ich bin mit meiner Angst nicht fertig geworden. Wenn ich sagen soll, wie es anfing - mit meiner eigenen kleinen Verzweiflung. Mit meinem kleinen Angstschrei, den ich losgelassen habe - und es war, als ob Sie mit einem Fuß mal so in den Schnee stubsen und eine Lawine geht los.« Und die mündet in der Initiative »Mütter gegen den Krieg«. Viele, die sich ihr in den ersten Tagen gleich anschließen, sie bestärken und unterstützen, sind froh, endlich darüber reden und schreiben zu können, was sie bewegt. Es gibt andere, die Ilona Rothe vorwerfen, als Mutter eines Freiwilligen stehe es ihr nicht zu, sich so in der Öffentlichkeit zu äußern. Wieder andere verstehen sie mit ihrem Anliegen überhaupt nicht. Auch ihr Sohn gibt ihr - in den kurzen Telefonaten, die möglich sind -, zu verstehen, sie solle ihn da rauslassen. Aber letztendlich, so Ilona Rothe, gehe es ihr ja nicht nur um ihren Sohn.

»Ich meine, man beobachtete alles und sah, wie der Krieg wuchs, Schritt für Schritt. So wie wir es mal gelernt haben, hat sich alles vollzogen, alles. Und ich hab' mir dann gedacht, wenn schon alles so kommen soll und du kannst es nicht verhindern, dann willst du dir nicht den Vorwurf machen: du hättest etwas unternehmen können, es wenigstens versuchen können und hast es nicht getan, aus welchen Gründen auch immer - aus Angst oder aus Scheu. Und ich wußte genau, das würde ich mir vorwerfen.« Sie spricht ruhig, freundlich - vielleicht macht das der Thüringer Dialekt. Die innere Aufregung jedenfalls ist der 49jährigen kaum anzumerken. Auch am Telefon, das immer und immer wieder unser Gespräch unterbricht, hört sie geduldig zu, läßt sich nicht hetzen, erklärt und fragt nach.

Oft hat sie in den letzten Tagen und Wochen den Satz gehört, da kannst du ja doch nichts machen. »Der Satz hat mich nur noch verzweifelter gemacht.« Und die Verzweiflung hat sie getrieben. diese Situation ist ihr nicht unbekannt, die gab es schon öfter in ihrem Leben. »Das sind Situationen gewesen, wo ich ganz anders empfunden habe als andere. Und wo ich dann überlegt habe, du bist hier, die andern dort. Die denken so, und ich so. Ich bin nicht drüber hinweggekommen: Das waren solche Zweifel, obwohl ich genau wußte, ich habe recht. Also man prüft und befragt sich immer und immer wieder und kommt immer wieder zur gleichen Ansicht.«

1982 - damals ist sie noch Lehrerin für Deutsch und Russisch (heute arbeitet sie in der Firma ihres Mannes mit und führt Touristen auf Bildungsreisen durch die Erfurter und Weimarer Geschichte) - wird sie aufgefordert, sich von ihrer Westverwandtschaft loszusagen, weil sie für das Amt des stellvertretenden Parteigruppenorganisators vorgesehen ist. Zwei ihrer Kollegen sagen sich los, sie nicht. Zivilcourage? »Einfach zu sich selbst stehen«, sagt sie und das für gut und richtig Befundene verteidigen. Gerade das Einfache ist oft so schwer. Anfang der neunziger Jahre kündigt sie als Lehrerin - für sie eine Konsequenz, die ihr Leben ein Stück durcheinander wirbelt. Zu dieser Zeit engagiert sie sich für jene, die Anfang der fünfziger Jahre in der Aktion »Ungeziefer« aus dem grenznahen Raum ins Landesinnere zwangsausgesiedelt wurden und nun, 40 Jahre später, auf symbolische Rehabilitierung hoffen. Auch damals fing alles ganz klein an, mit einer Zeitungsannonce, die sie aufgab. Es mündete in politische Forderungen.

Während ich das alles aufschrieb, war Ilona Rothe unterwegs nach Belgrad. Am Donnerstag vergangener Woche machte sie sich mit einer Gruppe ähnlich Denkender auf den Weg: etwa hundert Frauen und Männer aus Erfurt, Chemnitz, Dresden. Sie brachten Medikamente und Kindernahrung, die eine Hälfte war für ein Kinderkrankenhaus in Belgrad, die andere für eines in Mazedonien gedacht. Sie wollten etwas überbringen, was sich mit »menschlicher Anspruch« beschreiben ließe, wenn dieser Begriff nicht von so vielen gebraucht und mißbraucht würde in der jetzigen Zeit. Er ist dehnbar geworden. Fast alle benutzen ihn als Rechtfertigung für ihr jeweilige Handeln. »In einer Zeit«, so meint Ilona Rothe, »in der wir den Anspruch haben, Menschen zu sein, die ein gewisses Niveau in der Menschheitsgeschichte erreicht haben - stehen wir plötzlich da und sagen, wir haben bloß noch eine Chance, wir bomben. Oder kämpfen wie im Mittelalter Mann gegen Mann. Das geht in meinen Kopf nicht hinein, ich kann das nicht ertragen, und ich kann es nicht verkraften. Irgendwo müssen wir anfangen, einen Anspruch an uns selber zu stellen, als Menschen«. Können moralische Ansprüche Leben retten? Was heißt in dieser Zeit überhaupt »gutes Gewissen«?

Auch Ilona Rothe lebt in diesen Tagen mit einer inneren Zerrissenheit: »Einerseits«, so begründet sie ihre Fahrt nach Belgrad, »wollen wir deutlich machen, daß wir gegen diese Vertreibungen sind, die in ihrem Wesen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, wir wollen aber genauso deutlich machen, daß es andererseits auch unser energischer Wunsch und Wille ist, daß die Bombardierungen aufhören. Unser Anspruch ist Frieden für alle.«

Obwohl die 112 Belgrad-Reisenden wußten, daß ihre Aktion fast aussichtslos sein würde, fuhren sie los. Der älteste 82, die jüngste 16 Jahre alt. Nichts zu tun - wäre allemal schlimmer, findet nicht nur Ilona Rothe. Es tue ihr leid, daß Bomben auf Jugoslawien fallen, sagt sie der Vorsitzenden der Frauenvereinigung Jugoslawiens, ebenso tue ihr leid, wie die Armee gegen die Albaner und die UÇK vorgehen. Die Reise durch Serbien findet in Belgrad dann doch ein jähes Ende. Es heißt, die zuständigen Behörden könnten die Sicherheit der Gäste nicht garantieren und bitten um vorzeitige Abreise. Eine Bitte mit Aufforderungscharakter, der nachgekommen werden muß. Enttäuschung mischt sich bei den meisten mit Erschöpfung, die jüngeren verstehen es nicht. Ilona Rothe stellt klar: »Wir sind dankbar dafür, daß wir überhaupt einreisen durften«.

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