"Ich bin nicht verrückt"

Briefwechsel Allen Ginsberg und Jack Kerouac erfanden die Beat-Generation mit. Sie schrieben sich seit 1944 unermüdlich Briefe, die nun erstmals auf Deutsch erschienen sind

Allen Ginsberg
[San Francisco, Kalifornien]

an Jack Kerouac
[o.O., New York, New York?]
vor dem 26. Oktober 1954

Lieber Jack:

Das Chaos regiert! Nach einem schockierenden Briefwechsel scheint Bill von seiner wilden Raserei wieder runter zu sein. Jetzt ist er unten in Fla. [Florida]. Mein Brief an ihn war vielleicht etwas zu heftig, aber die folgende Korrespondenz hat einige der bösen Gefühle wieder ausgebügelt und die ganze Situation deutlich entlastet. Falls es dich interessiert, ich hoffe wirklich, dass er hier rüberkommt, wollte das immer, aber nicht mit dieser Besessenheit. Die kenne ich nur zu gut. Aber so oder so, jetzt ist er unten in Florida. Und was passiert als Nächstes? Seine Erbschaft verflüchtigt sich allmählich – hat sich auf $ 100 pro Monat reduziert, wie er schreibt. Kann vielleicht nicht nach Tanger. Weiß nicht, was er machen soll. Will eigentlich gar nicht unbedingt nach Kalifornien, sagt er, aber unter bestimmten Umständen vielleicht doch, sagt er auch. Ich habe ihm geschrieben und ihn eingeladen rüberzukommen, ihm das Fahrgeld zur mexikanischen Grenze angeboten, wenn er wegwill. Und würde auch die Miete für eine kleine Wohnung oder Zimmer hier übernehmen […]

Ich wohne zurzeit in einer großen verrückten Whg. am Nob Hill mit Sheila [Williams], die übrigens Jerry Newman kennt, hörte von ihm durch einen ehemaligen Toningenieur-Freund von Brubeck, den sie kennt. Al Sublette ist ständig hier und trinkt Wein und isst und redet und Sheila und er verstehen sich gut. Sie ist eine Art Kaufhaus-Angestellten-Version von Dusty [Moreland], aber jünger und mit Kind und neigt häufiger zu mädchenhaft psychologischen Mini-Dramen (ich bin irgendwie ein alter müder Mann, ich schaff dieses Auf und Ab mit
dem Liebeswahn nicht mehr) – und die Samen des Zerfalls dieser Liebesaffäre sind ganz unübersehbar schon gesät, jetzt da wir uns häuslich eingerichtet haben. Ich wünschte, es wäre einfach nur still und häuslich, damit ich schreiben kann. Aber ich ziehe eine Spur Burroughs hinter mir her und sie eine von Ex-Liebhabern und Kaufhaus-Cocktail-Freunden und unbestimmter Kindlichkeit. Nur Gott weiß, was passieren wird. […]

Wegen Sheila und Herumziehen und Vögeln
und Abenden in North Beach und Kaufhaus-Typen (nur lästig) habe ich nichts mehr geschrieben, seit ich aus San Jose weg bin. Inzwischen hat sich alles etwas beruhigt und ich arbeite diese Woche wieder an einem Buch, das etwa zu 1⁄3 fertig ist. Vielleicht noch einen Monat und dann schicke ich dir ein
Exemplar, Titel vielleicht The Green Automobile.
Ich habe deinen Brief an Neal geschickt und ihn
gefragt, was du ihm geschrieben hast und habe noch keine Antwort er hat sich nicht geäußert – habe ihn nicht mehr gesehen, seit die Bullen immer mal wieder bei ihm aufkreuzen, aber jetzt wieder alles in Ordnung, keine Gefahr mehr. […]

Ich werde dir noch zu deinen S. F.-Gedichten schreiben. Sie stehen dem Kern der Poesie näher als alles, was man sonst wo finden kann, aber da ich mich in den beiden vergangenen Jahren eher darum bemüht habe, eine Ausdrucksform zu
finden (wie Cézanne sagte, er wolle Bilder malen, die wie die Klassiker in den Museen aussehen, und
das hat er) sind deine Gedichte in einigen speziellen Momenten (zum Beispiel Ted der FBIler; Teile von Neal vor Gericht; andere kleine Skizzen vom Fenster aus) durchaus gelungen. Ich sag jetzt lieber nichts mehr, bevor ich nicht zu Hause bin. (Schreibe das am Freitagnachmittag in meinem Büro an der Montgomery Street) und schau sie mir noch mal an – auch wenn sie formal sind und gleichzeitig ungeschminkt. Sheila hasst mich, weil ich ein
spießiger alter pessimistischer Begriffsmensch und kein Dostojewski’scher Liebhaber bin. Zurzeit vögele ich übrigens zum ersten Mal regelmäßig, was für eine Erleichterung, da nun endlich angekommen zu sein. Wie ich höre, machen Burford (und Baldwin?) Bill und mich schlecht. Wo liegt das Problem? Ich habe keine Ahnung, warum Burford auf diese Weise reagiert, wenn er nicht doch, wie Ed White in Dustys Wohnung sagte, einfach nur ein Schwätzer aus Europa ist, der einen einzuwickeln versucht. […]

Ich schreibe demnächst wieder,

Allen

Bill meinte, du wärst wegen meines Briefes an
ihn sauer auf mich. Solltest du nicht sein – ich tue alles, was in meinen Kräften steht, für ihn. Wenn ich ihm nicht geschrieben hätte, würde er immer noch in diesem tragischen Selbstmitleid verharren. Sogar Bill weiß das im tiefsten Inneren.

Anmerkung der Herausgeber: Ginsberg hatte Angst davor, dass Burroughs nach San Francisco kommen und sein Leben okkupieren würde. Er liebte Burroughs als Freund, wollte ihn aber nicht als Liebhaber. Deshalb wurde er wütend, als Kerouac an Burroughs schrieb, Ginsberg warte auf einen Besuch von ihm.

Jack Kerouac
[Richmond Hill, New York]

an Allen Ginsberg
[San Francisco, Kalifornien]
26. Oktober ’54

Lieber Allen:

Danke für deinen Brief und dass du durchblicken lässt, du hättest mir verziehen und deine Wut über meine kleine Notlüge gegenüber Bill sei verraucht – damit er sich besser fühlt, habe ich praktisch bloß wie eine alte Oma runtergeleiert: „Insgeheim will er wirklich wieder mit dir zusammen sein denn weißt du Bill sonst würde er doch nicht so viel schreiben und diskutieren und alles noch mal wiederkäuen“ – Mein eigentliches Gefühl war, dass vielleicht du Bill gar nicht mehr haben wolltest, weil er so seltsam und erschreckend und verschlossen geworden ist.

1. Er hat auf absolut nichts reagiert, was ich gesagt habe, besonders was den Buddhismus betrifft – wie Lucien ist es ihm „vollkommen schnuppe“.

2. Du hättest mich niemals in diese Beurteilungen miteinbeziehen dürfen, denn die haben allesamt mit Begierde und Begehrlichkeiten von Homo-
sexuellen zu tun, und da bin ich kein Experte.

3. Burroughs respektiert meine Intelligenz nicht, aber mehr noch, er respektiert auch meine Macht der Täuschung nicht.

4. Ich werde niemandem mehr für nichts etwas vormachen oder ihn hintergehen und rufe alle von uns auf, zu den Beat-Generation-Bekenntnissen von 1947 zurückzufinden und zur Aufrichtigkeit à la Luciens trunkenen Wahrheiten im Morgengrauen.

Die „Notlüge“ galt nur Bill für Bill – gleichzeitig war mir durchaus bewusst, dass du ganz hetero mit einem Mädchen zusammen bist und ich habe Bill das auch gesagt. Ich weiß nicht, was er dir geschrieben hat (über meine Ansichten.) „Unheiliger Kanuck“ verordnet dir Liebschaften, die mir fernliegen, wie denn das, wer sind denn hier die Schwulen, also wirklich – ich könnte doch keinen Sex mit Bill haben und was liegt denn näher als ein alter Liebhaber, der ihn erneut liebt? Ich meine, warum hast du dich so aufgeregt? Bist du sicher, dass Neal der Verrückte ist, oder bist du es? Ich glaube, du warst auf Hundert-achtzig und hast deinen heftigen Ablehnungsbrief an Bill in dieser Aufregung geschrieben. Ich will nicht unfreundlich sein und ich will mich nicht streiten und ich will nicht als „gemein“ missverstanden werden – aber ich glaube wirklich, dass wir alle mal eine ernst gemeinte Beichte ablegen und den sich aufgestauten Hass aufeinander eingestehen sollten, der sich in letzter Zeit angesammelt hat, denn der wird weiter wachsen, wenn er nicht mit den Wurzeln rausgerupft wird, […]

[Bob] Burford hat dich nicht runtergemacht, er hat ganz im Gegenteil große Achtung vor dir und will auf der Stelle von dir hören – über amerikanischen Konsul oder Burford, c/o L’Eau Vive, Soissy Sur Seine, Frankreich – Visions of Cody hat ihn glatt umgehauen, der A. A. Wynn-Teil, und wollte Beat Generation Road bei Knopf vorlegen, aber mein Agent wacht eifer-süchtig darüber, dass sich niemand einmischt und ich hoffe, ich habe keinen Mist gebaut, als ich mich seinem Urteil angeschlossen habe – er ist Gott, es geht langsam – dieser Cowley-Artikel sollte es gebracht haben, was meinst du? Buch ist bei E. P. Duttons – [James] Baldwin hat Bill runtergemacht, nicht dich, hat Bills Manuskript irgendwo gesehen. – Sag Al Sublette, ich habe einen neuen großartigen Pianisten namens Cecil Taylor getroffen, spielt wie [Oscar] Peterson auf klassisch, schnelle Läufe aber Brubeck-Strawinsky-Prokofjew-Akkorde, ein Juilliard-Klassizist – er, wie Baldwin, farbig, ich glaube schwul, – Baldwin ist schwul. Ich kapier dieses ganze Schwulsein nicht. Burford hat Bill runtergemacht und gesagt: „Wenn ich an das Böse glauben würde, dann ist er böse“. Burford sagt, der einzig andere böse Mensch, den er kennt, ist Temko (!) (?) – Ich habe [Eric] Protter runtergemacht, war da betrunken. – Deine Gedichte sind bei Bill – ich glaube, sie sind großartig, was willst du, Whitman mit Anklängen von Melville. –

[…] Ich meine, Cowley sollte sich Naked Lunch
ansehen. Ich werde Sax [Alfred] Kazin zeigen, er war kürzlich im TV, sprach über Melvilles atemloses Stottern und großartig. Weißt du, dass meine San Fran Blues-Gedichte alle spontan auf die Schnelle geschrieben worden sind? darauf kommt’s an. Nicht
allzu gut, eher Niemandsland, bin ich sicher, bis auf einige … bildlich dünn. Na und? Meine Gedichte sind Prosazeilen. Ich habe gerade einen Trip nach Lowell gemacht, die ganze Dulouz-Legende alle 35 Bände in mein Hirn gebrannt – soll ich mich wirklich mit so vielen immer wiederkehrenden Details herumschlagen? Spukschloss oberhalb meines Geburtshauses, das ich nicht mehr gesehen habe, seit ich drei war … da hat Sax seine Wurzeln. Der ganze Lowell-Trip so enorm, ich kann gar nicht so viel Luft schnappen, wie ich zum Erzählen bräuchte … später. Bin müde. Froh dass du geschrieben hast und nicht wütend bist und ich nicht wütend bin und lass uns in Einverständnis ruhen. […] Falls du übrigens Fragen zur Leuchtenden Wahrheit hast, frag mich. Ich bin jetzt klarer denn je. Was das Tao betrifft, das sind nur Äußerlichkeiten,
so wie ich in Mexiko ein Tao-Hobo in Beans und Jeans bin, aber etc. mit anderen Worten, ich habe Gnosis und apokalyptische Sicherheit jenseits aller Zweifel erreicht und mein Geist ist jetzt bereit, sich auf das Ende zu konzentrieren.

Jack

WICHTIG! (geschrieben nach 12 Stunden Schlaf) Ich hatte $ 30 Bares für eine Winterlederjacke in meinem Schreibtisch und Bill wollte mit dem Taxi nach Richmond und sah durch den Wind aus und wollte Geld (für Ritchie) und nahm alles – Anstatt es zurückzuzahlen, ist er nach Florida gefahren – Schreibt nicht mal mehr – Ich habe seine Adresse nicht – Es wird Winter und kein Mantel für den armen alten Poe – schick mir die gottverdammte Adresse – ich gehör hier nicht zu denen, die Einkünfte haben. Das Geld gehört in Wirklichkeit meiner Mutter. – Ich will
dieses Geld zurück. Was ist eigentlich mit der Handlungsvollmacht passiert, die du hast? Mein Agent Sterling Lord will mein Buch auch für eine französische Ausgabe nach Frankreich verkaufen und das alles abwickeln. Es sei denn, er arbeitet als Geheimagent für Giroux, der ihn mir empfohlen hat. Und was noch? – Sieht so aus, als sei Neal schließlich
in den Absichten von Karma-Gea abgesoffen – ich fürchte, wir sehen ihn nicht mehr wieder.

Anmerkung der Herausgeber: Im Dezember flog Ginsberg
zur Hochzeit seines Bruders nach New York, der am 18. des Monats heiratete. Er hatte so die Möglichkeit, viele alte Freunde wiederzusehen, darunter auch Kerouac. Aber eine Woche später war er schon wieder in San Francisco, wo er sich Hals über Kopf in Peter Orlovsky verliebt hatte, ein attraktives Modell des Malers Robert LaVigne. Ginsbergs Leben änderte sich auf einen Schlag: Er zog aus der gemeinsam mit Sheila Williams gemieteten Wohnung aus und mit Orlovsky und LaVigne zusammen, dessen Wohnung und Atelier sich an der Gough Street befanden.

Jack Kerouac
[Richmond Hill, New York]

an Allen Ginsberg
[San Francisco, Kalifornien]
22.12.54

Lieber Buddy-Boy,

ich bin nicht verrückt. Du hättest vor den bärtigen Künstlerszenetypen in der Menge keine Show abzuziehen brauchen. Ich habe kürzlich einen Film mit Alistair [Alastair] Sim gesehen, Christmas Carol 1 – hast du dir Sim jemals angesehen? Wusstest du, dass Seymour [Wyse] Alistair Sim sehr schätzt? Wie großartig er ist. Wie ein großartiger englischer Dichter, der aber Schauspieler geworden ist. Größer als Dylan Thomas, wie eine echte Herbert-Vaughan-Herrick-Wyatt-Größe, in der Schauspielerei, im Gesichtsausdruck, in der Interpretation. Ich fühle mich so sentimental wie unser lieber Rabbi.

Die Nacht ist kalt. Eiskalt. Schnee. Eis. Meine Beine sind kalt. Heute Nachmittag habe ich lange meditiert und versucht, in der Essenz des Geistes zu verweilen. Man kann darin nicht verweilen, kann nur einen flüchtigen Blick darauf erhaschen und sogar drauf starren, und darüber nachdenken, aber da wir nun mal von den drei Gunas besessen sind, Sattva, Rajas und die andere [Tamas] (die Klarheit des Lichts, die Energie der Bewegung und die Trägheit des dunklen Körpers) kann man nicht die ganze Zeit sitzen etc. Aber die Großartigkeit von Dickens ist die gleiche Sache, die auch [John Clellon] Holmes so großartig macht … ein gewaltiges Ach-Was-Zum-Teufel-Machen-Wir-Einen-Drauf … wie Holmes auf früheren Partys mit erhobenem Bierglas … mit den Lyndons und Durgins und Wer-zum-Teufel-Anderen … wie Cannastra. Vielleicht bin ich eines Tages wie Scrooge, ein geläuterter mürrischer Buddhist, der plötzlich loszieht und auf der Straße tanzt? Es spielt keine Rolle, ist alles dasselbe. Unsere Balzacs und Dickens und Heiligen Dostojewskis wussten das.

Machs gut

Jack

Ruhm tötet alles - Die Briefe Jack Kerouac, Allen Ginsberg Hrsg. von Bill Morgan, David Stanford, Rogner & Bernhard 2012, 502 S., 22, 95 Euro

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