der Freitag: Zentralrat der Asozialen klingt erst mal wie ein Witz. Wie kommen Sie darauf, diese Institution ins Leben zu rufen, noch dazu als Kunstprojekt?
Tucké Royale: Es gibt nach über 70 Jahren einfach immer noch keine bundesweite Interessenvertretung der zur NS-Zeit als asozial Verfolgten. Wir gründen den Zentralrat der Asozialen in Deutschland (ZAiD) als Kunstprojekt, weil das derzeit die einzige Möglichkeit ist, Realitäten schneller zu verändern.
Sie nennen Ihr Projekt auch eine „asoziale Plastik“.
Damit beziehen wir uns natürlich auf Joseph Beuys. Wir spielen den Zentralrat der Asozialen jetzt einfach so lange, bis es ihn gibt, und nehmen das selber sehr ernst. Für die historische Expertise haben wir einen wissenschaftlichen Beirat.
infach so lange, bis es ihn gibt, und nehmen das selber sehr ernst. Für die historische Expertise haben wir einen wissenschaftlichen Beirat. Außerdem arbeiten wir mit den Gedenkstätten Ravensbrück und Neuengamme zusammen, und ich stehe mit Wolfgang Ayaß in Kontakt, der als einer der ersten deutschsprachigen Wissenschaftler dazu geforscht hat. Das Thema ist von Historikern erst sehr spät angefasst worden. Vieles ist einfach in Vergessenheit geraten. Zum Beispiel, dass kaum Entschädigungszahlungen geleistet und die Jahre der Zwangsarbeit für die Rente nicht gezählt wurden.Gibt es überhaupt Überlebende, die sich als asozial identifizieren?Asozial ist eine stigmatisierende Fremdbeschreibung, das macht die Identifikation für verfolgte Personen sehr schwer. Da ist die zugewiesene Scham immer noch sehr groß. Hinzu kommt, dass nach dem Bundesentschädigungsgesetz von 1953 nur Inhaftierte entschädigt wurden, bei denen politische Verfolgung oder rassische Gründe vorlagen. Den Asozialen wurde damals in Fortführung der Nazi-Perspektive abgesprochen, dass sie Opfer der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik waren. Hin und wieder sind die wenigen Überlebenden in Gedenkstätten zu hören, so auch zum 70-jährigen Befreiungstag in Ravensbrück.Wenn asozial ein so negativ besetzter Begriff mit NS-Wurzeln ist, wieso greifen Sie ihn auf?Wir sagen: „Niemand ist asozial, vergesst die Asozialen nicht.“ Und genau in diesem Spannungsfeld arbeiten wir. Es muss klar werden, dass die Bezeichnung eine politische Konstruktion ist. Statt „asozial“ wurde auch „arbeitsscheu“ verwendet, das ist genauso schwierig. Dieser Sprachgebrauch führt zu einer ganz merkwürdigen Quasi-Legitimierung der Verfolgung, man selbst ertappt sich beim Lesen dabei, dass man die Verfolgungsgründe nachvollziehbar findet. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass es Leute gab, die unter dieser Bezeichnung deportiert, sterilisiert, zu Zwangsarbeit verpflichtet und umgebracht wurden. Daher finde ich es legitim, dieses Wort vorübergehend und erinnernd zu verwenden, bevor diese Opfergruppe ganz vergessen wird.Gibt es in der offiziellen Gedenkpolitik denn Ansätze, die Versäumnisse zu beheben?In Schulbüchern ist nichts darüber zu finden, in Ausstellungen sehr wenig. Allenfalls steht da diese Farbwinkeltabelle in einer Ecke, auf der dargestellt ist, wie die Häftlinge in den Lagern markiert wurden. Man sieht, dass die Gruppe der Asozialen mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet wurde, aber das war’s. Es gibt bisher vor allem einen Expertendiskurs, der aus Historikern besteht und Leuten, die in der Erinnerungspolitik arbeiten. Die leisten sehr gute Arbeit, es wird ihnen aber wenig Aufmerksamkeit zuteil. Wir sind als Zentralrat also auch eine Art Veröffentlichungsbeschleuniger.Placeholder authorbio-1Die Missachtung, haben Sie vorhin angedeutet, könne auch damit zusammenhängen, dass die Inhaftierung der Asozialen im Vergleich zu anderen Opfern als „verständlich“ wahrgenommen wird. Ist dem tatsächlich so?Natürlich werden heute keine Leute deportiert oder sterilisiert, um sie auszulöschen. Die Nazi-Verfolgung ist immer noch singulär und kann nicht relativiert werden. Es ist aber auffällig, dass sich Floskeln wie „das ist ja voll asozial“ oder „du Assi“ gehalten haben. Damals wie heute wird erwartet, dass man Arbeit hat, oder zumindest signalisiert, dass man zum Arbeiten bereit ist, um seinen Teil zur Gemeinschaft beizutragen, und das unter Strafandrohung. In den Jobcentern wird Hartz-IV-Bedürftigen quasi unter Generalverdacht gesagt, machen Sie keinen Mist mit dem Geld und versuchen Sie nicht, zu betrügen, sonst werden die Leistungen gestrichen. Es ist auch immer noch so, dass bestimmte, unterprivilegierte Existenzen im Stadtbild nicht erscheinen dürfen. Es gibt eine Kontinuität des entsolidarisierten Blicks auf Leute, die in prekären Umständen oder sozialen Unterschichten leben.Wobei ja in der NS-Zeit nicht nur Wohnungs- oder Arbeitslose, sondern auch Fahrende, Wanderarbeiter, Prostituierte oder Straßenhändler zu den Asozialen gezählt wurden.Ja, das ist eine sehr heterogene Gruppe, die sich ja gar nicht als Gruppe versteht. Trinker, Unterhaltssäumige, Prostituierte, Vagabunden, Wanderer, Fürsorgeempfänger; zum Teil gibt es auch Überschneidungen mit anderen Opfergruppen, also Juden oder Schwulen oder auch Sinti und Roma, die als „fremdrassige Asoziale“ galten. Für einige bestand die Stigmatisierung nach 1945 in der BRD und der DDR weiter, etwa für Menschen, die in Arbeitshäusern inhaftiert waren. Die einzigen gemeinsamen Merkmale dieser Leute bestanden darin, dass sie eher aus der Unterschicht kamen und aus NS-Sicht eine Bedrohung der Reproduktion des nationalsozialistischen „Volkskörpers“ darstellten.Heute geht es doch aber nicht mehr um schädliche Einflüsse für den „Volkskörper“, sondern eher um ein neoliberales Verständnis von Leistung und Arbeit.Ja, es gibt trotzdem die Kontinuität, Menschen aufgrund ihrer Leistung, die sie einer Gemeinschaft bringen, zu beurteilen. Auf einer volkswirtschaftlichen Ebene hat sich dieser Gedanke gehalten.Sie haben sich am 18. März zum Ersten Sprecher des ZAiD ernannt. Können Sie als Mensch, der nicht von Hartz IV und so weiter betroffen ist, dieses Amt überhaupt für sich beanspruchen?Ich bin jetzt gerade nicht von Arbeitslosigkeit betroffen. Trotzdem habe ich Erfahrungen als Langzeitarbeitsloser. Das berechtigt mich aber trotzdem nicht, für die historischen Opfer zu sprechen. Darum ist der ZAiD ein Kunstprojekt. Ich kann vorerst den Ersten Sprecher des ZAiD spielen, selbst wenn es bei mir oder meiner Familie keine derartige Verfolgungsgeschichte gibt. Ich will ja nicht mir eine Plattform bieten, sondern ein guter Gastgeber sein für Organisationen und Gruppen, die in dem Bereich arbeiten. Die Frage ist, ob es mir gelingt, denen eine Öffentlichkeit zu verschaffen, damit wir das ganze Thema der Asozialenverfolgung endlich aufrollen können.Was steht also an?Es wird die Aktion Unmöglicher Ort geben, bei der wir im Gedenken an die als asozial Verfolgten in der Hamburger Innenstadt Klee pflanzen, dessen Blätter eine Zeichnung haben, die wie schwarze Dreiecke aussieht. Es gibt ein Tortenessen mit der fahnenflüchtigen Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann. Natürlich werden wir nicht gleich mit der Bundesregierung ins Gespräch kommen. Aber wir werden das auf jeden Fall verlangen.Placeholder infobox-1
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