Ich bin so frei

Porträt Günther Huniat war einer der wichtigsten subversiven Leipziger Maler und organisierte den Herbstsalon 1984 mit. Heute sitzt er allein im Atelier. Ein Besuch
Ausgabe 48/2019
Günther Huniat hat der Kunstfreiheit einen Garten geschenkt. Dass seine große Zeit vorbei ist, macht ihn nicht bitter
Günther Huniat hat der Kunstfreiheit einen Garten geschenkt. Dass seine große Zeit vorbei ist, macht ihn nicht bitter

Foto: Charlotte Sattler für der Freitag

Da ist etwas über ihn hinweggegangen in den letzten dreißig Jahren. Aber bei wem sollte er sich beschweren? Als ich mich bei Günther Huniat zum Besuch anmelde, zögere ich, ihn darauf anzusprechen, dass er in der diesjährigen großen Ost-Kunst-Schau Point of No Return im Leipziger Bildermuseum nicht vertreten war. Ihr Echo drang bis in die New York Times. An Huniats Wirken erinnert nun nur eine kleine Ausstellung, die den Leipziger Herbstsalon von 1984 dokumentiert, eine skandalöse subversive Aktion, die sechs Künstler im Rücken eines ideologisch genau geregelten Ausstellungsbetriebs in der DDR organisiert hatten. Es hing am seidenen Faden, ob es zu der Jubiläumsschau überhaupt kommen würde, weil sich die Aufrechten von damals nicht mehr einig sind. Das, scheint es, ist der Lauf der Dinge.

Günther Huniat ist mit sich einig. Er ist der Letzte seiner Art. Große Überraschungen kommen vermutlich keine mehr. Er weiß es. Vor ein paar Wochen feierte er seinen achtzigsten Geburtstag. Als wir uns verabredeten, musste ich mir mit einer Wegbeschreibung helfen lassen.

Das Gelände der ehemaligen Stötteritzer Freiluftgalerie wird von einem Neubau verstellt, der billig wirkt. Es gibt einen Durchgang in der Mitte, „den nimmst du, dann siehst du schon mein Atelier“. Ich finde den Durchgang. Das Haus erscheint wie ein Riegel, und ich denke: Huniat, der Unruhegeist, ist abgeriegelt. Der kleine, drahtige Mann sieht nicht aus wie achtzig und der spitz zulaufende Vollbart ist noch nicht weiß.

Seine Augen tanzen bei der Begrüßung auf mich zu. Da kann ich ihm doch nicht mit der Frage nach der Ost-Kunst-Schau kommen und warum man ihn übergangen hat. Als ich es schließlich doch wissen will, winkt er lächelnd ab: „Ich habe meine Tänze gehabt.“ Er ist nicht bitter, warum auch, er hat sich zweimal in die Kunstgeschichte eingeschrieben.

Künstler ist er schon fast sechzig Jahre. Seit 1963 betätigt er sich künstlerisch, seit 1965 mit Atelier und seit 1971 lebt er davon. Die 33 Jahre, in denen er die Stötteritzer Freiluftgalerie zu einem Experimentalort für Künstler und Szenetreff machte, sind inzwischen Leipziger Kunsthistorie. Ich kenne Huniat von damals, von Vernissagen in dieser Freiluftgalerie. 1984 war er das Aushängeschild des legendären 1. Leipziger Herbstsalons, dieser halb legalen, anarchischen, privat finanzierten Kunstausstellung im Leipziger Messeamt am Markt.

Drei Wochen dauerte sie und wurde von Funktionären als „konterrevolutionär“ eingeschätzt. Es gab weder Plakate, Zeitungsartikel oder Pressemeldungen, alles lief über Mundpropaganda, aber die funktionierte: Die alternative Szene strömte in die Ausstellung und schrieb die Gästebücher voll. Sechs Künstler hatten die Schau in Eigenregie organisiert. Günther Huniat war ihr offizieller Vertreter. Ein Autodidakt, der so wie die anderen mit sozialistischem Realismus wenig anfangen konnte. Nicht Helden waren interessant, Gestrandete.

Als Huniat Kaffee ankündigt, schaue ich mich in seinem Atelier um. Ein rechteckiger Raum, links und rechts schmale Gänge, die nur mit Vorsicht zu begehen sind. Sie sind vollgestellt mit Bildern, auch die Wände sind bepflastert. Der Tisch ist mit Kunst vollgelegt. Ich fühle mich erinnert an das Schreibatelier von Friedrike Mayröcker in Wien: bei ihr Zettelstapel überall, bei ihm sich stapelnde Bilder. Darüber liegt ein weiteres Zimmer in derselben Größe mit demselben Überfluss. Wie viele Arbeiten sind ein Lebenswerk? „Fünftausend, zehntausend“, sagt er unbestimmt. Der Ton springt zwischen Stolz und Last hindurch.

Austausch und Skulpturen

1939 in Thammühl/Böhmen geboren, musste Huniats Familie 1946 nach Mecklenburg emigrieren, wo er eine Ausbildung zum Möbeltischler absolvierte. Ab 1958 studierte Huniat, teilweise in Fernkursen, Pädagogik, bis er 1960 nach Leipzig kam. Und Künstler wurde.

Huniat führte zeit seines Künstlerlebens ein offenes Atelier, welches als Labor und Experimentalraum diente. „Ich hatte nie Spaß daran, Tag für Tag allein im Atelier zu sitzen.“ Er wollte einen öffentlichen Ort der Kunst, der dem Austausch unter Künstlern dienen sollte. In den 1960er Jahren stellte er in seinem Garten aus. Daraus wurde 1980 dann die Stötteritzer Freiluftgalerie, ein öffentlicher Skulpturenpark mit wechselnden Ausstellungen, ein poetischer Ort – das Werk von drei Partnern: dem Stadtbezirk Südost und den Künstlern Günther Huniat und Frieder Heinze.

Diese Galerie im Grünen, in der Holzhäuser Straße 73, wurde neben der Hochschule für Grafik und Buchkunst zum zweiten Kunstzentrum in Leipzig. Huniat war der Motivator – und Werkzeugverleiher. Wenn jemand sagt, die Freiluftgalerie sei bloß sein Hobby gewesen, Vorwand, sich selbst zu zeigen, trifft ihn das hart. Was hat er auf die Beine gestellt, um erstklassige Skulpturen, aus der Sammlung Würth zum Beispiel, nach Leipzig zu holen. Für Bildhauerei hatte die Hochschule keinen Ausbildungsgang, den gab es dann in Huniats Freiluftgalerie. Durch ihn konnte die Moderne – mitten im Leipziger Stadtbezirk Südost – leben. Mitten im Osten, von dem der Westen dachte, hier kochen alle sozialistischen Realismus. Baselitz dachte das zumindest, der Maler und Bildhauer, der 1958 nach Westberlin übersiedelte.

Die offen stehende Ateliertür führt nach draußen. Ich steige die fünf Stufen hinunter in den kleinen Garten vor seinem Atelier. Anstelle von Obstbäumen wachsen dort Plastiken: kleine, sehr kleine, dicke, dünne Stalagmiten aus Sandstein oder Metall. Manche bemalt, manche nicht. Klaut hier keiner? „Diebe wissen damit nichts anzufangen, bringt kein schnelles Geld“, sagt Huniat ganz ruhig. Dann erzählt er vom Leipziger Herbstsalon.

Der Anfang des Weltruhms

Sechs Künstler nahmen am Leipziger Herbstsalon 1984 teil, neben Günther Huniat waren das Hans-Hendrik Grimmling, Frieder Heinze, Olaf Wegewitz, Lutz Dammbeck und Günter Firit. Huniat und Wegewitz waren künstlerische Autodidakten, die anderen Absolventen und Meisterschüler der Leipziger Kunsthochschule HGB. Obwohl sich die Aktion gegen das Establishment richtete, kam es zu unerwarteten Solidarisierungen: zum Beispiel von Wolfgang Mattheuer und Bernhard Heisig, der im ZK der SED den Kompromiss aushandelt, dass der Salon stattfinden darf – aber nur als Werkstattausstellung, ohne Werbung und mit maximal 24 Besuchern gleichzeitig. Es kommen während der dreiwöchigen Ausstellung mehr als 10.000 Menschen aus der gesamten DDR angereist.

Als im folgenden Jahr jüngere Künstler mit dem Versuch, einen eigenen Herbstsalon zu organisieren, scheiterten, war dies Auslöser der Gründung der Galerie eigen + art, heute weltberühmt als die Galerie von Neo Rauch, die erst durch versteigerte Kunstspenden von Huniat und anderen Salonisten das zur Gründung notwendige Kapital erlangte.

Während nach dem 1. Herbstsalon drei der beteiligten Künstler in die BRD ausreisen und die beiden anderen Leipzig verlassen, bleibt Huniat da. Arbeiten Huniats finden sich u. a. in den Sammlungen der Nationalgalerie Berlin, des Museums der bildenden Künste Leipzig, des Kupferstichkabinetts Dresden oder der Eremitage St. Petersburg/Russland. Bis zum 7. Dezember 2019 findet im Museum der bildenden Künste in Leipzig eine Ausstellung mit Dokumenten und Fotos zur Erinnerung an den legendären 1. Leipziger Herbstsalon statt.

Er hatte damals ein Projekt im Kopf, „Tangente“ – ein multimediales Gesamtkunstwerk mit Malerei, Plastik, Musik, Tanz und Video hatten sie sich ausgedacht, er und der Leipziger Künstler Hans-Hendrik Grimmling. Erst sagten die Kunstwächter Ja zu der Idee, dann „übernahmen sie das Konzept und sagten: ‚Danke, das wird die ultimative Ausstellung für Junge Kunst. Die machen natürlich wir, der Verband!‘ Da erwiderten wir: ‚Nein, so haben wir nicht gewettet.‘ “ Die Idee des Herbstsalons war geboren. Gegenüber dem Messeamt, von dem sie Räume mieten wollten, traten sie einfach als befugte Emissäre des Künstlerverbands auf: Huniat, Grimmling und Frieder Heinze. Die Miete für die 600-Quadratmeter-Halle hatte Huniat auf 4.070 Ostmark heruntergehandelt. Sie bekamen den Vertrag und eine Etage im Leipziger Messehaus am Markt. Als der Verband oben merkte, dass unten gehandelt worden war, drohte er mit Schließung noch vor der Öffnung. Huniat und die anderen fünf Künstler hielten dagegen. Das Gerücht lief um, dass sie bei Verbot ihre Bilder öffentlich verbrennen würden. Ein Autodafé als Höhepunkt des Aufstands gegen die Väter an der Kunsthochschule. Der Aufstand gelang, diesmal.

Günther Huniat hat sich vom Künstlerverband, in dem er von 1971 bis zur Schließung 1989 die Stellung für Unangepasste hielt, nie einschüchtern lassen. „Ich war in Verband und Partei, denn eines war mir klar: Wenn du was reformieren willst, geht das nur von innen. Ausreisen hilft nur dem, der geht, nicht der Sache“, sagt er.

Ich fahre die Tonaufnahme noch zweimal zurück. Sein Ton klingt nach: Zusammen hätten wir’s vielleicht besser machen können. Ostler unter sich reden immer schnell vom Osten. Wir kommen aufs Reisen, genauer aufs Nicht-Reisen. Im Jahr 1986 hatte ihn Jan Hoet, der spätere Kurator der documenta IX, zu einem verlockenden Projekt nach Belgien eingeladen: Er sollte sich an einer Ausstellung beteiligen, die auf 51 Wohnungen in der Stadt Gent verteilt war. Dabei bemalten 70 internationale Künstler die Wohnräume ganz normaler Genter Bürger. Die DDR-Behörden verweigerten den Reisepass, und Huniat konnte nichts machen. Er erzählt von Max, einem aus Leipzig nach Amerika ausgewanderten Juden, nicht unvermögend, aber weder verwandt noch verschwägert.

Zu seinem Achtzigsten hatte er in die USA nach Kalifornien eingeladen. Huniat konnte sich ausrechnen, was aus der Einladung werden würde, gar nichts. Es sei denn, er beantragte schlitzohrig eine Verwandtenreise zum „lieben Onkel in Amerika“. Es klappte. 1988 sechs Wochen USA, eine längst überfällige Studienreise an die Wurzeln der Pop-Art, der Objektkunst von Readymade und Objet trouvé.

Mit Alltagsgegenständen und Dingen aus Abfall hatte er immer schon gearbeitet. Wie angekündigt, kehrte er nach Leipzig zurück, in seine Freiluftgalerie, und für einige Zeit knallten die Farben auf Blättern und Plastiken. Als er wiederkam, die DDR hatte nur noch ein paar Monate zu leben, lehnte sie ihm eine Ausstellung im hessischen Hanau ab.

Nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung begann sich die Welt schneller zu drehen, nicht nur um Günther Huniat. Auf einmal standen vier Westschlitten auf dem Parkplatz vor seiner Galerie und Männer in langen Fellmänteln betraten das Atelier. Nachbarn hielten sie für Drogendealer. Es waren aber Sammler. Huniat verkaufte und verkaufte, endlich. Es gab große Neugier auf DDR-Kunst. Aber auch umgekehrt: Die Sommeraustellungen der Freiluftgalerie öffneten sich für westdeutsche Künstler. Das Publikum strömte.

Große Lippe Baselitz

Huniat sah sich in den neunziger Jahren am Ziel. Zwar hatte der Stadtbezirk gleich 1990 die Freiluftgalerie abgewickelt, aber sie machten als „e. V.“ bruchlos weiter. Als Georg Baselitz, selbst aus dem Osten stammend, den in der DDR Gebliebenen absprach, Künstler zu sein und Kunst zu machen, begann sich allmählich der Wind zu drehen. Es lief ähnlich wie bei der Treuhand. Die Wessis wollten Konkurrenz loswerden. „Noch Kaffee?“ Wir stellen uns auf die Treppe und blicken in den Garten. Vorn, wo jetzt Parkplatz und der hässliche Hausriegel sind, befand sich die Freiluftgalerie. Jetzt im Herbst wirkt der schmale Plastikgarten, ein Torso des einstigen Freigeländes, mit den kleinen und großen Plastiken wie ein Friedhof. Vielleicht denkt Huniat es auch, denn er schweigt. Dann: „Es gibt keinen Schuldigen. Zuerst nahm das Aufregungspotenzial der ausgestellten Kunst ab: in der Freiheit geht alles!, dann kam der Freiluftgalerie das Freigelände abhanden.“

2013 musste er den Verein abmelden. „Auf der Rechnung“, sagt er, „stehen Plus- und Minusbeträge, wie bei jedem. Nicht nur bei Ostlern“. Die Stadt Leipzig, selbst knapp bei Kasse, verkaufte das Grundstück an den privaten Investor, ließ aber den Künstler nicht ohne Schutz. Das dahinterliegende Atelier und der Plastikgarten bleiben ihm auf Lebenszeit. Er arbeitet unverdrossen: Zeichnungen, Ölbilder, Plastiken. Aber es kommen immer weniger Leute, um sich Kunst anzuschauen.

Der Kern der freigeistigen Leipziger Kunstszene ist er nicht mehr. „Es gibt heute gar keine Szene mehr“, sagt Huniat. „Jeder hockt für sich im Atelier.“ Sind nur noch wenige übrig, die wissen, wie alles war. Er stellt es fest, die Stimme stockt nicht, keine Klagen. „Wenn ich ins Traumland will, leg ich mir André Heller auf.“ Heller passt zu ihm, denke ich, hat er doch wie der große Zauberer einen Paradiesgarten geschaffen. Seinen Plastikgarten.

Michael Hametner ist Literaturkritiker und Autor. Zuletzt erschien von ihm Kopfkino, ein Porträt des Malers Hans Aichinger

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