Ich bin teuer

Altmeister Auch in seinen neuen „Tagebüchern“ nörgelt Fritz J. Raddatz wieder virtuos am Kulturbetrieb herum und fühlt sich unverstanden
Ausgabe 11/2014

Sie sind ein vollkommen einzigartiges Zeitdokument, die neuen Tagebuchaufzeichnungen von Fritz J. Raddatz. Mit ihnen verglichen dünnt der Ton der legendären Notate von Harry Graf Kessler zu Klängen eines Salon-Vivaldi aus, und Thomas Manns spinöse Sottisen verblassen zu einer weltlosen Nabelschau. Mann war Künstler, er sah das Geschehen um sich herum, war es ihm nicht zugeordnet, eher als störende Belästigung. Zwar versuchte sich auch der 1931 geborene Fritz J. Raddatz als Schriftsteller und arbeitete an mehreren Romanen und Erzählungen, die erst in den 80er und 90er Jahren erschienen. Doch das Überwältigende an diesem Mann ist seine ganz und gar unbestechliche – gelegentlich gnadenlose – Beobachtung der Welt des frühen 21. Jahrhunderts: Zeitgenosse im besten Sinn des Wortes.

Und doch sind die neuen Tagebücher auch von einer abgrundtiefen Herzenstraurigkeit durchzogen. Denn was Raddatz in diesen sich über 700 Seiten erstreckenden Denkwürdigkeiten darbietet, ist im Grunde nichts anderes als eine bittere Wehklage und auch Anklage, dass er, der nachweislich größte Humorist und umwerfendste Satiriker sowohl des 20. als auch des 21. Jahrhunderts, bizarrerweise seit jeher von allen ernst genommen wird. Mit diesem Missverständnis nun räumt er gleich eingangs endgültig auf: „Spricht (oder schreibt) man im deuxième dégrée, also mit dem Zwinkern ‚na, mein Guter, du weißt natürlich, dass das nicht so gemeint ist‘ – dann wird es als bare Münze genommen.“ Immer wieder weist er darauf hin, was ihn an den anderen stört: „Selbstironie ist ihnen ein Fremdwort.“ Oder: „Ironie, selbst wenn dick aufgetragen, kommt nicht an.“ Fortan aber trägt er richtig dick auf!

Seine geniale Könnerschaft stellt Raddatz auch hier wieder unter Beweis: Selbst die bösartigsten Kritiker könnten ihm keinen einzigen Vorwurf machen, den er sich in diesen Tagebüchern nicht selbst schon gemacht hätte. Er sei geldgeil? Ja, er räumt es offen ein: „Ich bin teuer.“ Er arbeite fehlerhaft? Ja, er räumt es offen ein: „Am schlimmsten: Ich arbeite fehlerhaft.“ Er sei wehleidig? Ja, er räumt es in Permanenz ein. Die Tagebücher seien redundant? Auch das räumt er ein. Und doch ist gerade dies falsch. Schließlich gibt es in diesen Tagebüchern nicht bloß ein einziges Leitmotiv, sondern deren drei. Erstens: Die Freunde sterben weg. Zweitens: Wein bzw. Champagner, der von anderen ausgesucht wird, verursacht Raddatz Kopfschmerzen. Drittens: Andere (zum Beispiel der Lyriker Kurt Drawert) kreisen zu sehr um sich selbst.

Wahres Vergnügen

Tatsächlich sind diese Tagebücher unfassbar reich an Details. Es ist ja nicht wahr, dass Raddatz alle anderen Autoren nur mit Beleidigungen überziehen würde. Walter Kempowski, Peter Rühmkorf, Siegfried Lenz, Ulla Hahn, Arthur Schopenhauer und Rafik Schami beispielsweise nennt er beinahe zärtlich Kempi, Rühmi, Lenzi, Hahni, Schopi und Schami. Auch sonst spielt Raddatz gerne mit Namen. Nur wer ganz und gar versteinert ist, wird über Derartiges nicht aus vollem Halse lachen: „Da kommt der Herr Funk, dessen ‚Funk‘tionen sich nicht mehr zählen lassen.“ Raddatz liebt nicht nur hinreißende Namenswitze, sondern auch exquisite Wortspiele. Über einen von ihm moderierten Tucholsky-Abend im St.-Pauli-Theater notiert er anschließend: „Mein Beginn, es gebe eine Verkehrswarnung, und das sei doch in dieser Reeperbahn-Gegend Hamburgs ein schönes Wort – verpuffte.“ Verstehen Sie?

Vor allem aber muss es für Raddatz ein wahres Vergnügen sein, darauf zu warten, dass nun wieder jene Korinthenkacker und Erbsenzähler aus ihren Löchern kriechen, die sich flammend darüber entrüsten wollen, dass ausgerechnet er anderen vorwirft, sie müssten doch wissen, dass es nicht Tucholski, sondern Tucholsky, nicht Mairöcker, sondern Mayröcker, nicht Radatz, sondern Raddatz heiße. Einen Jux will er sich machen – und schreibt an einer Stelle einfach selber von einer Figur namens „Thomas Buddenbrock“. Am 3. Februar 2007 schließlich notiert Raddatz: „Keiner der deutschen / deutschsprachigen Nobelpreisträger ist ein Suhrkamp-Autor: Böll, Grass, Canetti, Jelinek.“ Es gibt also nur vier deutschsprachige Nobelpreisträger? Welch herzerfrischender, gequirlter Nonsens! Auch hier werden viele Literaturhysteriker die grandiose Ironie nicht erkennen: Denn der Eintrag bedeutet natürlich nicht, dass Raddatz jetzt senil geworden ist. Vielmehr kann man den Eintrag so interpretieren, dass Raddatz hier mit einem Schlag Theodor Mommsen, Rudolf Eucken, Paul Heyse, Gerhart Hauptmann, Carl Spitteler, Thomas Mann, Hermann Hesse und Nelly Sachs die Nobelpreiswürdigkeit aberkennt! Es ist also ein humoristisches Werturteil, dessen Humor sich zunächst nur Raddatz selbst erschließt. Damit das aber auch die weniger Klugen kapieren, schreibt er wenigstens über Paul Heyse dann doch noch explizit, dieser sei „zu Recht insgesamt vergessen“. (Und tatsächlich ist Heyse so gründlich vergessen, dass man diese Nennung im Namensregister einfach übergangen hat – das Zitat steht auf Seite 566.)

Was Raddatz indes offenbar selbst schon langweilt, ist, dass ihm ein Hang zu Falschzitaten nachgesagt wird. Dem baut er nun vor, indem er seine Quellen von vornherein mit Fragezeichen versieht: „jener Brahms(?)-Satz: ‚O Tod, du große Bitternis‘“. Nach einem Brecht-Zitat merkt er in Klammern an: „nicht ganz WÖRTLICH!“ Es ist dies überhaupt einer seiner liebenswerten Manierismen, dass er sich als Majuskelprotz betätigt und Großbuchstaben – zum Ärger seiner Kritiker und zur Freude von uns Verehrern – völlig sinnlos quer über seine Tagebücher auskippt: „Der Wein wurde INS Bierglas gegossen.“ Ein strunzdummer Kritiker würde jetzt natürlich sagen: Gewiss, so etwas gehört sich nicht, aber wäre es nicht noch unanständiger, den Wein NEBEN das Bierglas zu gießen?

Alldieweil ein anderer Manierismus fast noch besser ist: Auf seine Eigenheit, Diminutive durch falsche Apostrophe zu kennzeichnen, geht Raddatz sogar expressis verbis ein. Glänzender Satiriker, der er ist, zieht er es jedoch vor, auch die Apostrophe mit dem Salzstreuer zu verteilen: Zwar kommen „Messerbänk’chen“, „Greisenärm’chen“, „Verwerfungsvers’chen“, „Kritzelkärt’chen“ und dergleichen vor, aber „Trägerkleidchen“ oder „Wackelstühlchen“ schreibt er dann plötzlich OHNE Apostroph. Und einmal steht sogar „biß’chen“ (MIT Apostroph) und „bißchen“ (OHNE Apostroph) in ein und demselben Satz. Brillant!

Der Karl-Kraus-Preis

Den – if so – satirischen Bogen überspannt Raddi allenfalls dort, wo er erklärt: „Ich habe nie ein Buch aus Artikeln zusammengestellt.“ Wenn das ironisch gemeint sein sollte, dann geht der Schuss aber nach hinten los, denn es ist doch quasi wahr! Im Band Süchtig nach Kunst etwa sind zwar ausnahmslos Artikel versammelt, die zuvor schon einmal erschienen waren oder die für diese Publikation noch einmal überarbeitet wurden. Also handelt es sich doch um ein Buch nur aus alten und nun zweitverwerteten Artikeln? Aber nein! Denn in den Quellennachweisen steht schwarz auf weiß: „Vorwort: bislang unveröffentlicht“.

Und einer kleinen Ergänzung bedarf des Tagebüchlers Bemerkung, er sei „wohl der einzige Schreibende, der NIE JE einen (der ca. 3.800 Literaturpreise) erhalten hat“. Da übergeht Raddatz, dass ihm bereits 1986 der mit 30.000 D-Mark dotierte Karl-Kraus-Preis zuerkannt wurde. Nun hat Raddatz diesen Preis allerdings nicht angenommen. An die Auslobung des Karl-Kraus-Preises war eine Bedingung geknüpft: Der Preisträger habe „künftig von der Veröffentlichung eigener Schriften Abstand zu nehmen“. Hm hm. Hat Raddatz diesen Literaturpreis also nur deshalb nicht angenommen, um hinterher in seinen Tagebüchern darüber lamentieren zu können, dass er keinen Literaturpreis erhalte? Doch genug der Beckmesserei. Wir alle, begierig wartend seit Jahren auf diese neue Tagebuchtranche, haben Grund zum Feiern. En bref: Schade, dass Sitte und Anstand es verbieten, dem Rowohlt Verlag eine Kiste Champagner zu schicken. Verdient hätte er es.

Tagebücher 2002 – 2012 Fritz J. Raddatz Rowohlt 2014, 720 S., 24,95 €

Frank Fischer ist der Gründer des Feuilleton-Thinktanks „Der Umblätterer“, der im Dezember 2013 die „Fritz-J.-Raddatz-Festwochen“ veranstaltete.

Joseph Wälzholz veröffentlicht – im wöchentlichen Wechsel mit Fritz J. Raddatz – eine Kolumne in der Literarischen Welt

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