»Ich habe meiner Regierung am 13. August kein Danktelegramm geschickt«

13. August 1961 Offener Brief des Schriftstellers, veröffentlicht in der Wochenzeitung »Sonntag« am 27. August 1961

Drei Tage nach dem 13. August 1961 richteten die Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass einen »Offenen Brief« an Kollegen in der DDR mit der Aufforderung, die Maßnahmen ihrer Regierung nicht widerspruchslos hinzunehmen und offen zu antworten. Direkt angesprochen wurden Anna Seghers, Arnold Zweig, Ludwig Renn, Willi Bredel, Stephan Hermlin und Peter Huchel. Direkt geantwortet haben Stephan Hermlin, Erwin Strittmatter, Bruno Apitz, Paul Wiens, Franz Fühmann, der Komponist Hanns Eisler und der Bildhauer Fritz Cremer. Alle anderen reagierten nicht.

Aufschlussreich war dabei, dass aus dem Hermlin-Brief von den Medien in Ost und West in schöner Eintracht zunächst nur die generelle Zustimmung zur Grenzschließung zitiert wurde: Im Osten, um die Unterstützung des Künstlers für die DDR-Führung - im Westen, um das Elend eines »Zonenschriftstellers« am »roten Gängelband« zu dokumentieren. Im vollen Wortlaut wurde das Schreiben nur von zwei Zeitungen abgedruckt: Der Welt in Hamburg und dem Sonntag in Ostberlin - einem der beiden Vorgänger unseres Blattes. Hermlin hatte Schnurre und Grass unter anderem geschrieben:

Ich habe meiner Regierung am 13. August kein Danktelegramm geschickt, und ich würde meine innere Verfassung auch nicht als eine solche »freudiger Zustimmung«, wie manche sich auszudrücken belieben, definieren. Wer mich kennt, weiß, daß ich ein Anhänger des Miteinanderlebens bin, des freien Reisens, des ungehinderten Austauschs auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, besonders auf dem Gebiet der Kultur. Aber ich gebe den Maßnahmen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik meine uneingeschränkte ernste Zustimmung ...

Ich erinnere mich noch sehr genau an das ekelerregende Schauspiel einer sogenannten nationalen Erhebung, das ich am 30. Januar 1933 als ganz junger Mensch am Brandenburger Tor erlebte. Zehntausende von Hysterikern teilten einander damals tränenüberströmt mit, Deutschland sei endlich von der Knechtschaft erlöst. Hätten damals am Brandenburger Tor rote Panzer gestanden, wäre der Marsch nach dem Osten nie angetreten worden, brauchten keine Eichmann-Prozesse stattzufinden und säßen wir heute zu dritt in einer unzerstörten, ungeteilten Stadt am Alex oder am Kurfürstendamm im Café.

In Ihrem Brief wird sehr deutlich an die Adressaten appelliert, sie mögen sich nicht vor einer Antwort drücken, es gäbe angesichts der heutigen Situation kein Schweigen, so wenig - wie Sie schreiben - wie etwa zwischen 1933 und 1945. Offenbar haben Sie doch nicht sehr genau überlegt, an wen Sie das geschrieben haben, denn Ihre Adressaten, zumindest die Mehrzahl von ihnen, schwiegen gerade zwischen 1933 und 1945 nicht, im Gegensatz zu so vielen patentierten Verteidigern der westlichen Freiheit des Jahres 1961.«

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