Als ein Jahr nach der Errichtung der NS-Diktatur die emigrierte SPD-Führung nach programmatischer Neuorientierung suchte, ging sie weit zurück zu den Ursprüngen der Republik. Über die Politik der Partei in den Monaten nach dem Ersten Weltkrieg fällte sie in wenigen, aber deutlichen Worten ein vernichtendes Urteil: "Die Sozialdemokratie als einzige intakt gebliebene organisierte Macht übernahm ohne Widerstand die Staatsführung, die sie sich von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte," schrieb sie in ihrem im Januar 1934 veröffentlichten und illegal in Deutschland verbreiteten Prager Manifest. Es sei ein "schwerer historischer Fehler" gewesen, dass sie den alten Staatsapparat des Kaiserreiches "fast unverändert" gelassen habe. Die Selbstkritik kam spät, sehr spät - und sie war nur zu berechtigt.
Ordnungspolitik statt Umwälzung
Deutschland im Herbst 1918 war ein Land in Gärung. Vier Jahre Krieg und Hunger hatten es an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Das Kaiserreich stand mit der offensichtlichen militärischen Niederlage vor dem Bankrott. Als erste erhoben sich Ende Oktober die Matrosen der Kriegsmarine. Sie bildeten am 4. November in Kiel den ersten Soldatenrat, dem noch am selben Tag ein Rat der Kieler Werftarbeiter zur Seite trat. Wie ein Steppenbrand breitete sich die Rätebewegung in den nächsten Tagen über ganz Deutschland aus.
Alle politischen Strömungen der seit 1917 organisatorisch in Mehrheitssozialdemokraten und links von ihr stehende Unabhängige Sozialdemokraten gespaltenen Arbeiterbewegung waren in den Räten vertreten. Sie forderten das Ende des Krieges und der Monarchie, Vorstellungen einer sozialistischen Umgestaltung Deutschlands waren ebenfalls verbreitet, blieben aber oft diffus. Eine Minderheit vertrat das Ziel einer sozialistischen Räterepublik nach russischem Vorbild.
Die Führung der Mehrheitssozialdemokratie nahm nicht aus Überzeugung, sondern von den Ereignissen getrieben an der Rätebewegung teil. Seit Anfang Oktober in der Kaiserlichen Regierung des Max von Baden vertreten, sah sie ursprünglich ihre Aufgabe in der Rettung der Monarchie. "Deutschland", erklärte der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert, sei "nicht reif für eine Republik, und wir Sozialdemokraten, die dies wissen, fürchten den Augenblick, da die Masse, die Straße, unter dem Einfluss der Unabhängigen die Durchführung unseres Parteiprogramms von uns verlangt und eine Republik fordert."
Doch die Revolution stieß nicht nur den Kaiser vom Thron, sie fegte überhaupt alle Throne hinweg, wie sich am 7. November zeigte, als in München die Republik ausgerufen wurde. Wenn auch die Dynastien nicht zu retten waren, so galt für Ebert weiterhin: "Ich will die soziale Revolution nicht. Ich hasse sie wie die Sünde." Als am 9. November die Monarchie endgültig zusammenbrach, nahm er die Macht nicht von den Räten entgegen, sondern empfing sie aus den Händen eines badischen Prinzen, damit "Ruhe und Ordnung bewahrt werden." Was immer die Vertreter der MSPD im sich am 9. November bildenden Rat der Volksbeauftragten, dem zunächst paritätisch auch Vertreter der USPD angehörten, in den kommenden Wochen und Monaten leisteten: Sie taten es, um dem kaiserlichen Offizierskorps, der Staatsbürokratie und dem Unternehmertum das Überleben zu sichern.
Fatale Abkommen
In einer seiner ersten Amtshandlungen wandte sich Ebert an die kaiserliche Beamtenschaft, bat sie um Weiterarbeit und bekundete wärmstes Verständnis dafür, "dass es vielen schwer werden wird, mit den neuen Männern zu arbeiten, die das Reich zu leiten unternommen haben." Nicht auf die Arbeiter und Soldaten wollte sich die Regierung in künftigen Konflikten stützen. Ebert zog es vielmehr vor, von den Truppen des untergegangenen Kaiserreiches beschützt zu werden, vereinbarte mit dem preußischen Kriegsminister Scheüch sowie General Groener, dem Nachfolger Ludendorffs in der Obersten Heeresleitung, enge Zusammenarbeit und stimmte der Forderung Groeners zu , "dass die Mannschaften im Gehorsam zu ihren Offizieren gehalten werden." Groener schrieb an seine Frau: "Der Feldmarschall (Hindenburg) und ich wollen Ebert so lange stützen, so lange es irgend geht, damit der Karren nicht noch weiter nach links rutscht."
Schließlich schloss Carl Legien, Eberts Mann an der Gewerkschaftsspitze, mit den maßgeblichen Unternehmervertretern ein Abkommen. Darin zollten die Konzerne der Revolution wohl einigen Tribut und akzeptierten Tarifverträge und den Achtstundentag. Dafür sicherten die Gewerkschaften ihnen die künftige Zusammenarbeit im Rahmen einer Zentralen Arbeitsgemeinschaft zu. De facto war damit eine Entscheidung gegen die Sozialisierung der Schwerindustrie gefallen, die von zahlreichen Räten gefordert wurde und seit dem Erfurter Programm von 1891 zum programmatischen Grundbestand der SPD gehörte. Hans von Raumer, führender Kopf des Reichsverbandes Deutscher Industrieller, konstatierte später zufrieden: "Man geht nicht zu weit mit der Feststellung, dass die Zentralarbeitsgemeinschaft im ersten Jahr ihres Bestehens Deutschland vor dem Chaos und einer bolschewistischen Revolution bewahrt hat, weil die Gewerkschaften fest zur Ordnung und zu ihrer Aufrechterhaltung mit den Unternehmern standen."
Eberts Politik wurde vor allem durch die Stimmung in der Bevölkerung begünstigt, die nach den Grauen des Krieges nichts mehr wollte als Frieden und Normalität. Ebert versprach, dass eine aus allgemeinen Wahlen hervorgehende Nationalversammlung den harmonischen Übergang zum Sozialismus sichern würde. Räteherrschaft, wie sie von den Linken gefordert wurde, führe dagegen geradewegs in einen Bürgerkrieg wie er in Russland im Gange war. Das wirkte - auch in den Räten, die mehrheitlich eine friedliche Entwicklung wünschten.
Auf dem Rätekongress, der am 16. Dezember 1918 in Berlin zusammentrat, erhielt Eberts Position dann auch eine erdrückende Mehrheit, die USPD war nur schwach vertreten, Liebknecht und Luxemburg als Köpfe der Linken waren gar nicht delegiert worden. Mit 400 zu 50 Stimmen sprach sich der Kongress für Wahlen zur Nationalversammlung aus, die über die künftige Gestaltung Deutschlands entscheiden sollte. Ein Antrag der USPD, am Rätesystem als der Grundlage der Verfassung festzuhalten, wurde ebenso deutlich verworfen. Damit war eine Entscheidung gefallen: Revolutionäre Positionen konnten auf kurze Sicht nicht mit einer Mehrheit in den Reihen der Arbeiterschaft rechnen.
Putschismus statt Überzeugungsarbeit
Rosa Luxemburg schlug vor, an den Wahlen zur Nationalversammlung und an ihrer Arbeit teilzunehmen, um "die Massen zu schulen," das "Bollwerk Nationalversammlung von innen heraus zu sprengen" und um eine "gewaltige Kundgebung der Wähler zustande zu bringen, indem sie gerade Leute wählen, die gegen die Nationalversammlung und für das Rätesystem sind." Sie setzte sich in ihren eigenen Reihen nicht durch, blieb auch auf dem Gründungsparteitag der KPD Ende des Jahres mit ihrem Kurs einer geduldigen Überzeugungsarbeit in der Minderheit. Stattdessen stürzten sich ihre Kontrahenten Hals über Kopf in ein Abenteuer, das Ebert in die Hände spielte.
Auslöser war die Entlassung des zur Linken zählenden Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn, gegen die die Berliner USPD, die mit ihr verbundenen Revolutionären Obleute und die KPD zunächst lediglich mit einer Massendemonstration am 5. Januar protestieren wollten. Richard Müller, Sprecher der Revolutionären Obleute, berichtete später, dass die Demonstration - es waren mindestens 100.000 Teilnehmer - alle Erwartungen übertroffen habe. "Vor dem Polizeipräsidium, auf dem Alexanderplatz, in den Straßen bis zur Siegesallee standen die Massen bis in die Abendstunden und warteten der Dinge, die nun kommen sollten. Ein Teil der Demonstranten zeigte eine sehr gereizte Stimmung und verlangte durch Reden und Rufe die sofortige Aufnahme des Kampfes gegen die Regierung." Unterdessen war das Berliner Zeitungsviertel spontan besetzt worden. Bei den Organisatoren der Demonstration trafen Meldungen ein, die Berliner Regimenter seien bereit, die Regierung Ebert mit Waffengewalt zu stürzen. Sie beschlossen, den Kampf gegen die Regierung aufzunehmen, zum Generalstreik aufzurufen und einen Ausschuss zu bilden, der den Kampf leiten und die Regierungsgeschäfte provisorisch übernehmen sollte. Diesem sollte auch Karl Liebknecht angehören.
Binnen kurzer Zeit erwies sich allerdings, dass die Linken sich von allzu optimistischen Einschätzungen des Kräfteverhältnisses hatte leiten lassen. Die Kämpfer im Zeitungsviertel blieben schwach, von Unterstützung durch die Berliner Truppen konnte keine Rede sein. Stattdessen trafen unter Führung des Sozialdemokraten Noske die frisch gebildeten Freikorps ein, die zum seit Mitte Dezember geplanten Schlag gegen die Linke ausholten. Am 8. Januar nahm die KPD gegen den Aufruf zum Sturz der Regierung Stellung. Ein geordneter Rückzug gelang aber nicht mehr. Am 13. Januar war der Aufstand niedergeworfen, viele Kämpfer bestialisch erschlagen worden, obwohl sie sich ergeben hatten. Die Reaktion nutzte die Gelegenheit und ermordete zwei Tage später mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die beiden Persönlichkeiten, die sie für die Zukunft am meisten fürchtete.
So wurden in den drei Monaten zwischen November 1918 und Zusammentritt der Nationalversammlung im Februar 1919 mit maßgeblicher Hilfe der mehrheitssozialdemokratischen Führung die Weichen für eine Konsolidierung der Verhältnisse im Sinne von Unternehmertum, Militär und Bürokratie gestellt. Bis ins Jahr 1923 flackerte der Widerstand gegen die Restauration des reaktionären Obrigkeitsstaates immer wieder, aber letztlich vergeblich auf. Schlotbarone und Generalität nutzten ihre in die Weimarer Republik hinübergeretteten Machtpositionen schon bald, um die Zugeständnisse zu kassieren, zu denen sie in der Revolution gezwungen gewesen waren. Das galt für den Achstundentag, der 1924 bereits Makulatur war. Das galt am Ende für Republik und Demokratie, an deren Zerstörung Kapital und Militär bei nächster Gelegenheit mitwirkten, nun nicht mehr im Zeichen der Krone, sondern im Zeichen des Hakenkreuzes und des Zweiten Weltkrieges, der den vorangegangenen an Barbarei noch übertraf.
Kurt Tucholsky hatte bereits 1922 vorausgesehen, was das bündnispolitisch folgenlos gebliebene Prager Manifest der SPD 1934 beklagte: "Ich halte es für meine Pflicht, noch einmal auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die von der Reichswehr droht. Es wird kommen der Tag, wo wir hier etwas erleben werden. Welche Rolle die Reichswehr bei diesem Erlebnis spielen wird, beschreiben alle Kenner auf gleiche Weise."
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