Ich, Heldin der Niederlage

Bildung Adaptive Lernsoftware wird dieses Jahr erstmals an deutschen Schulen getestet. Unsere Kolumnistin Susanne Berkenheger hat das mal ausprobiert
Ausgabe 39/2021
Am meisten Spaß macht Schach, wenn man es nicht spielt
Am meisten Spaß macht Schach, wenn man es nicht spielt

Foto: Westend61/IMAGO

Was weiß schon Jimmy, der ewige Loser! Angeblich habe ich drei Patzer und zwei schwerwiegende Fehler gemacht. Na und? Schließlich habe ich ihn wieder mal matt gesetzt. Darauf kommt es doch an! 197 Partien Schach habe ich schon gegen Jimmy gespielt und alle gewonnen. Ich! Und das, obwohl ich gar kein Schach kann, zumindest nicht wirklich. Ich lerne es gerade – mithilfe einer adaptiven Lernsoftware.

Derartige Lernsoftware wird dieses Schuljahr erstmals auch an deutschen Schulen getestet: In Bayern unterrichtet Brainix, in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern Area9 Rhapsode – in allen Kernfächern. Wenn die betroffenen Schüler nur einen Hauch so drauf sind wie ich, dann stehen ihnen herrliche Zeiten bevor. Sie werden sich bald als die besten Schüler aller Zeiten fühlen. Mein Jimmy nämlich – das ist das Grandiose – spielt immer ein kleines bisschen schlechter als ich. Zudem wird kein überlegener Geist Zeuge meines Versagens, meiner stümperhaften Versuche. Nie habe ich Angst, Jimmy könnte mich für dumm halten, wenn ich was nicht kapiere.

Nein, mir ist jederzeit klar: Schlauer als Jimmy bin ich auf jeden Fall. Ich bin gut. Ich bin sehr gut. Ich bin fantastisch. Jimmy bestätigt mir das ständig. Ich glaube, er bewundert mich. Zu Recht, wie ich finde. Denn immer mehr meiner Züge sind einfach „großartig“, wie Jimmy sagt. Manchmal halte ich ihn deshalb für etwas dümmlich.

Von einem menschlichen Schachlehrer würde ich das eher nicht denken. Im Gegenteil: Für dümmlich würde ich mich da eher selbst halten. Vom Lehrer wäre ich beeindruckt, weil er halt ungleich besser Schach kann als ich. Ich hätte Furcht, dass er denkt: Die kapiert es einfach nicht! Schrecklich! Glücklicherweise ist es mit dem dummen Jimmy andersrum.

Inzwischen bin ich derart großartig geworden, dass ich auch mal gegen echte Menschen spielen möchte. Problem: Reale Gegner reagieren leicht über, wenn man seinen vorvorvorigen Zug wieder zurücknehmen will, weil man bemerkt hat, der war nichts. Mindestens drei vertrauenswürdige Hinweise pro Spiel geben sie einem auch nicht und von adaptivem Spielen wollen sie nichts wissen.

Diese unmenschlichen Bedingungen versuche ich momentan gegen Jimmy zu simulieren. Wie immer gehe ich lustvoll vor, ziehe behände das Pferd vor. Ich mag die Pferde – wie sie durch die Gegend hüpfen. Da muss ich nicht lange nachdenken. Wäre auch zu anstrengend. Wozu habe ich Jimmy?

„Patzer!“, schreit er jetzt, beziehungsweise schreibt er in Rot. Schon wieder?! Der täuscht sich doch! So habe ich schon mehrmals gedacht, aber letztendlich hat er eben doch recht gehabt. Andererseits: Wenn ich Patzer mache, macht er auch welche zum Ausgleich – also ist es eh egal. Ich ziehe zurück, starre ratlos aufs Brett. Was jetzt? Offenbar war ich von meinem Patzer doch sehr überzeugt. Hinweis, bitte! Ah, klar, den langweiligen Bauern vorziehen. Hätte von mir sein können, die Idee. So macht Lernen Spaß. Und zack – wieder gewonnen.

Nur: Wie lerne ich jetzt, ohne adaptive Unterstützung zu gewinnen? Dazu braucht Jimmy dringend ein Update: Jedes Mal, wenn ich einen Patzer mache oder einen Fehler und diesen nicht zurückziehe, könnte man mir einen Applaus einspielen. Bravo, gut gemacht! Du stehst zu deinen Fehlern. Und zum Schluss bekomme ich sogenannte Heldenpunkte. Mit diesen könnte ich eventuell sogar eine Niederlage verkraften. Als Held der Niederlage. Etwaige reale Schachpartner müssten natürlich gebrieft werden.

Für die Lehrer der adaptiven Software-Versuchsklassen hoffe ich inständig, dass derartige Updates in Brainix und Area9 Rhapsode bereits eingespeist sind.

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