Ich komme aus dem Eis

Kehrseite II Als Läpple am Montag in sein Büro kam, saß ein Liliputaner an seinem Schreibtisch. Läpple fasste sich sehr schnell. Er wusste, dass die Bewohner ...

Als Läpple am Montag in sein Büro kam, saß ein Liliputaner an seinem Schreibtisch. Läpple fasste sich sehr schnell. Er wusste, dass die Bewohner Liliputs, jenes sagenumwobenen Zwergenmärchenlands - wo lag das noch gleich? - ganz normale Leute sind und Berufe ausüben können wie jeder andere auch. So ging er ein paar Schritte auf den Herrn zu, grüßte freundlich und bemerkte dann, man sei einander ja noch nicht vorgestellt worden. Der Liliputaner hatte den Drehstuhl hochgefahren, damit er die Tastatur des Computers einigermaßen bedienen konnte. Als er Läpple kommen sah, ließ er die Sitzfläche mit einem Ruck in die tiefste Position sinken und lief unter dem Schreibtisch durch in Richtung Tür. Läpple zwickte er, als er ihn passierte, schnell in die Wade.

Läpple nahm sich bewusst eine ganze Stunde Zeit, um diesen Vorfall zu verarbeiten. Ob es nun ein schlechter Scherz der Kollegen war, den man auch als Mobbing einstufen konnte, oder eine Halluzination (der blaue Fleck an seinem Bein sprach eher dagegen) - er musste und er würde damit fertig werden. Er war in dieser Firma in letzter Zeit schon mit einigen Widrigkeiten fertig geworden.

Am Dienstag war es eine junge Frau, allem Anschein nach eine neue Kollegin, die auf Läpples Schreibtischstuhl saß. Sie trug ein teuer aussehendes, geschmackvolles Kostüm, wirkte allerdings zu stark geschminkt. Sie hatte die Beine übergeschlagen, bearbeitete die Tastatur aber trotzdem doppelt so schnell wie Läpple. Läpple ging um den Schreibtisch herum und wollte sie nett begrüßen. Die Frau sah nur wortlos zu ihm auf, drückte den Reset-Knopf des Computers und ging. Läpple entdeckte noch, dass mit ihrem Gesicht etwas nicht stimmte: Die linke Hälfte, die sie ihm erst abgewandt hatte, war kalkweiß. Kein Lippenstift, keine Brauen, kein Rouge auf der Wange.

Am Morgen des Mittwochs war Läpple eigentlich auf alles gefasst. Aber was dann passierte, ließ ihn doch an seiner Zukunft in der Firma zweifeln. An diesem Tag saß nämlich ein Eisbär an seinem Schreibtisch und hatte bereits den Computer gestartet. Läpple fragte sich, wie das Tier mit seinen riesigen Tatzen Maus und Tastatur bediente. Arbeitete es mit Spracheingabe? Irgend jemand musste in seiner Abwesenheit die neue Windows-Version geladen haben, von der in der Firma schon länger die Rede war. Das bedeutete wieder ein paar Tage zusätzliche Arbeit. Läpple ließ sich nichts anmerken und ging auf den Schreibtisch zu. Der Bär wandte den Blick vom Bildschirm ab und sah Läpple eine Weile in die Augen. Dann glitt er in einer geschmeidigen Bewegung vom Stuhl, trottete um den Schreibtisch herum zur Sitzgruppe und fläzte sich auf das weinrote Sofa, um das Läpple so lange gekämpft hatte. Läpple nahm nun seinen Drehstuhl wieder in Besitz. Die Haare, die das Tier dort zurückgelassen hatte, beachtete er nicht. Während er daranging, die Software zu prüfen, sah er ab und zu aus den Augenwinkeln zur Sitzgruppe hinüber. Der Eisbär schien wiederum ihn zu beobachten. Läpple bemerkte, dass er seine schwarzen Lippen zu einem schwer deutbaren Grinsen nach hinten zog.

Läpple vertippte sich mit seinen zitternden Fingern so oft, dass er die vielen Fenster, die sich am Bildschirm öffneten, schlossen und überlagerten, kaum mehr unter Kontrolle brachte. Ein Text schien noch in Bearbeitung zu sein. Er begann mit dem Satz: Ich komme aus dem Eis.

Läpple hatte noch nie etwas gelesen, was ein Eisbär geschrieben hatte. Aber er sprach sich Mut zu. Vielleicht war auch das nur eine Frage der Gewöhnung.

Rupprecht Mayer ist Sinologe und Übersetzer, er lebt in Burghausen und Berlin.


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