Ich-Konstruktion ohne Ende

Bühne Inzest, Mord, Flucht - Juli Zehs "203" ist eine wahrlich irre Familiengeschichte. Doch die Düsseldorfer Uraufführung wagt den Schritt in die völlige Absurdität nicht

Jemand musste Daniel M. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet und landete in Zelle 203. 203, so lautet der Titel von Juli Zehs neuem Stück, das den Investmentbanker Daniel Marker nicht in Kafkas monströse Bürokratie verstrickt, sondern ihn gleich seiner Identität beraubt: „Auf dem Sofa ist immer Thomas“, diktieren ihm seine Mithäftlinge Betty, Christa und Leo den neuen Verhaltens- und Kommunikationskodex.

Die Konstruktion von Identität ist eines der zahlreichen Themen von 203. Betty soll angeblich die Tochter von Leo und Christa sein. Als sich ihre Eltern trennen, sperrt der Vater die Tochter ein. Ihr Bruder Thomas, der später ihr Ehemann wird, versucht, seine Schwester zu befreien. Inzest, Mord, Flucht – die Familiengeschichte, an der die Insassen stricken, könnte grotesker kaum sein. Identitätsstiftende Erinnerung wird hier zum Palimpsest, das immer wieder neu überschrieben bzw. überredet wird. „Geschichten sind der Kern unserer Freiheit“, heißt es im Stück einmal, und selbst Thomas lässt sich allmählich in den Sog des narrativen Übertrumpfens hineinziehen.

Juli Zeh hat ihre Theoretiker gelesen und lässt sie von Kant bis zu einem parodierten Habermas aufmarschieren. Doch ähnlich wie die Figuren, so übertrumpft auch die Autorin ihr Grundthema mit immer neuen Volten: Sicherheitswahn, Gesundheitsdiktatur, Finanzmisere, Kontrollgesellschaft – alles, was sie in Romanen wie Corpus delicti oder dem Essay Angriff auf die Freiheit bereits verarbeitet hat, wird hier wieder aufbereitet. Zwei Wärterinnen impfen und füttern die Insassen, die sich nach anfänglichem Widerstand willig in ihr Vollversorgungsschicksal fügen: „Freiheit heißt jetzt Sicherheit“. Thomas entpuppt sich schließlich sogar als Schriftsteller, der einen Enthüllungsroman unter dem Titel 203 verfasst hat. Juli Zehs Stück ist eine klassische anti-utopische Groteske, die jedoch gerade aufgrund ihrer totalen Immanenz und ihrer Überkonstruktion wie ein dürres Pamphlet wirkt.

Nicht ganz unschuldig daran ist der Regisseur Hans-Ulrich Becker, der im Düsseldorfer Kleinen Haus das Stück zwar als Groteske inszeniert, vor dem Schritt in die völlige Absurdität aber zurückschreckt. In einer Box mit bunt gemusterter Tapete und Hirschkopf an der Wand hocken die Protagonisten auf Wohnzimmermöbeln mit Plastiküberzügen (Bühne: Alexander Müller-Elmau). Über der Bühne schwebt ein Überwachungsbildschirm. Gunther Eckes als Thomas gibt den Rebellen, dessen Entsetzen allmählich einer strategisch guten Miene weicht. Umso mehr, als Knutschen mit Betty inbegriffen ist, die Viola Pobitschka als prollige Verkäuferin mit Kant-Kenntnissen gibt.

Die Crossgender-Besetzung von Karin Pfammatter als Leo im Flatterkleid und Pierre Siegenthaler als Christa verstärkt den Effekt willkürlicher Identitätszuweisung. Beckers Regie entzieht dem Stück schließlich jeden realen Boden, wenn auch die Wärterinnen mit ihren Plastikhaaren künstlich wirken. Impfung per Tacker, Elektroschocker und Fütterung mit großen Spritzen sorgen für trashige Science-Fiction-Effekte. Ansonsten wird mit eher gemächlichem Tempo gespielt, die vierte Wand bleibt geschlossen, Abgründigkeit oder Turbulenz kommen gar nicht erst auf. Am Ende wird Leo auf einer Bahre abtransportiert und ein junges Mädchen als neuer Leo hereingebracht: Alles auf Anfang. Identitätsbildung ist bekanntlich ein unabschließbarer Prozess.

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