Ich sitze auf zwei Stühlen, nicht dazwischen

Die Kosmopolitin Wer in zwei Welten lebt, musste eine hinter sich lassen. Von einem Gefühl, das immer dazwischen ist
Ausgabe 51/2017

Sitzen Sie zwischen zwei Stühlen?, wurde ich vergangene Woche wieder gefragt. Das ist eine dieser Fragen, von denen man hofft, dass sie endlich mal aussterben werden. Ich war dabei, eine hartnäckige Katze, die immer wieder auf meinen Schoß sprang und mich dabei mit ihren Krallen kratzte, zu verscheuchen, und dachte so gar nicht über diese Tatsache nach: Dass ich das bin, was man als bikulturell bezeichnet. Eine Frau fragte mich, mit der ich zufällig ein Wartezimmer teilte, und die ich nie wieder sehen würde; ich wollte mich über die nervige Katze unterhalten oder am liebsten gar nicht.

Diese Frage stellt man, weil man sich das wahrscheinlich so denkt: Dass da zwei Welten sind, die an einem zerren, zwei Kulturen, die einen zu vereinnahmen versuchen, dass die verschiedenen Sprachen eine Entscheidung erbieten wie Ehemann oder Geliebter. Vielleicht steckt auch diese These dahinter: Dass das neue Zuhause der neue Geliebte sei, dass es wegen der Gewohnheit so schwer sei, den Ehemann zu verlassen. An Polygamie glaubt man, wenn man diese Frage stellt, nicht. Es hatte eines gewissen Selbstvertrauens, eines gewissen Wachstums, vielleicht auch eines sicheren Gefühls, nämlich des von Zuhause bedurft, bis ich mich selbstbewusst und selbstbestimmt zu antworten traute: Ich sitze auf zwei Stühlen, nicht zwischen ihnen. Und dass es schön sei, eigentlich ein Privileg, zwei Stühle zu haben. Das denke ich, aber ich will das dieser Frau, die ich nie wieder sehen werde, gerade nicht erklären. Es gibt andere Bilder dafür, was mit Menschen passiert, deren Weg nicht geradlinig verläuft, die vielleicht immer im Zickzack leben, die zwischen Welten und Kulturen hin und her springen, die auch hinfallen dabei. Solche Wege sind schwerer nachzuzeichnen, nie weiß man, was hinter der nächsten Biegung kommt. Oder wohin die Kurve führt. Ein Euphemismus wäre zu sagen, dass das immer eine Bereicherung ist. Weil all die Menschen, die man auf diesen Wegen kennen und schätzen und lieben lernt, mit dem Verlust derer einher gehen, die man gekannt, geschätzt und geliebt hat. Man entdeckt, was Neues bedeutet, man hat Altes hinter sich gelassen, meist nicht freiwillig. Man nimmt wenig mit, wenn man flüchtet, und das Wichtigste ist meistens im Kopf. Im Herzen. Bilder, Erinnerungen, Gerüche, Wortfetzen. Nach denen schaut man sich jahrelang noch um: Hat es hier so gerochen wie daheim?, fragt man sich im neuen Zuhause. Habe ich ein Wort in meiner Muttersprache gehört? Man stückelt zusammen: Jeden, den man auf dem Weg getroffen hat, jeden, den man hinter sich gelassen hat, all diejenigen, die man nicht verstanden hat, und auch die einen nicht verstanden haben. Wie man Worte der neuen Sprache zusammenbaut, vorsichtig, fragend manchmal, weil man sich unsicher ist, ob sie zusammen gehören, und in welcher Reihenfolge sie das tun. Bis Sätze daraus werden, bis die Sätze länger werden, bis sie klingen, als wüsste man, was man da sagt. Man baut zusammen, was man ist, Farben, die nicht zusammenpassen, und Tränen, die nicht geweint wurden.

Die Katze sprang wieder auf meinen Schoß, bestimmt zum zehnten Mal, obwohl ich sie nicht gerade sachte von mir geworfen hatte. „Ich stelle mir das mit den Stühlen ja manchmal anstrengend vor“, sprach die Frau, als habe sie meine Antwort nicht gehört. Ich stand auf, stellte mich wortlos ans Fenster, sah der Katze dabei zu, wie sie jetzt auf den Schoß der Frau sprang, die sofort nach ihrer Tasche griff, als habe die Katze ihr diese wegnehmen wollen.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Mehr Schwarz als Lila

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