Der Kölner "Müllprozess" gewährt seit vier Monaten manchen Einblick in tabuisierte Untiefen von Wirtschaft und Moral. Die großen Aufklärungs- und Skandalmedien von Spiegel bis BILD lassen diese Chance gnadenlos verstreichen. Denn was sich hier zeigt, ist nicht der Skandal nach ihrem Gusto, sondern die krude Normalität, wie Angeklagte und Zeugen gleichermaßen zu verstehen geben. Eine Normalität, die offenbar nicht als Skandal verstanden werden darf.
Sigfrid Michelfelder ist eine vertrauenswürdige Erscheinung und als Geschäftsführer des kürzlich fusionierten Unternehmens Babcock/Steinmüller einer der Großen im internationalen Anlagenbau. Er hat in der Untersuchungshaft gestanden, als einstiger Geschäftsführer von
;hrer von Steinmüller etwa zwölf Millionen Euro Schmiergeld gezahlt zu haben, um 1992 an den 400-Millionen-DM-Auftrag der Kölner Müllverbrennungsanlage (MVA) zu kommen. "Es ging damals um Arbeitsplätze. Unsere Existenz war gefährdet. Der Auftrag konnte uns den Einstieg in einen neuen Anlagenbereich erschließen, weltweit."Das Gericht hat ihm auf seinen Wunsch hin einen Diaprojektor in den Saal gestellt. Assistiert von zwei Anwälten, erläutert Michelfelder das "ideale Firmenmodell" einer Auftragskalkulation. Korrekt gescheitelt, im dunklen Anzug und mit changierender Innenweste beantwortet er zuvorkommend alle gestellten und nicht gestellten Fragen. Wenn Richter und Staatsanwälte bei Begriffen wie "Deckungsbeitrag", "Selbstkosten I und II" verständnislos blicken, erklärt der Angeklagte das Kalkulationsformular an der Wand noch einmal. "Ich weiß, dass das kompliziert ist". Er verweist auf Spalte 4: NA, "nützliche Aufwendungen" mit drei Prozent wie üblich, das sind bei 400 Millionen folglich zwölf Millionen. Alle nicken. Natürlich, drei Prozent von 400 Millionen sind zwölf Millionen. Es tauchte aber ein Problem auf, erläutert der Routinier: der Konkurrent Babcock musste als Subunternehmer dazugenommen werden, der wollte aber seinen Anteil an NA (Nützlichen Aufwendungen) nicht zahlen. Der Richter fragt, ob Michelfelder deshalb fünf Millionen beim Anlagenteil Rauchgasreinigung draufgeschlagen habe? Das könnte man durch die Schlussabrechnung klären. Aber die hat das Gericht sich nicht besorgt, und Michelfelder legt sie nicht vor.Der immer Höfliche hat in der Untersuchungshaft gestanden, dass er, der damals Präsidiumsmitglied der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) war, sich aus dem in einer Schweizer Tarnfirma angelegten Schmiergeldtopf auch selbst bedient habe, mit 500.000 Euro - vielleicht war es doppelt so viel, wie ein Mitangeklagter behauptet, aber das streitet Michelfelder höflich ab. Gegenwärtig zahlt er unauffällig eine Million Euro zurück, nachdem beim Insolvenzverfahren von Babcock bekannt wurde, dass er bei einem Anlagenprojekt in China aus dem Schmiergeldtopf eine Million Euro für sich abgezweigt hat, berichtet Die Welt unter Vermischtes im Wirtschaftsteil.Geschäftsführer und VielfachberaterUlrich Eisermann war seit 1992 Geschäftsführer der städtisch beherrschten Abfallverwertungs GmbH Köln (AVG). Auch er hat in der Untersuchungshaft ein Geständnis abgelegt: für fünf Millionen Euro Schmiergeld manipulierte er die Angebotsunterlagen zugunsten von Michelfelder und Steinmüller. Das Geld holte er aus den Schweizer Tarnfirmen ab, es wurde zeitweise mit Plastiktüten in zwei Kölner Garagen zwischengelagert und bei der Bodenkreditanstalt in Vaduz/ Liechtenstein angelegt. Eisermann, ehemals leitender Angestellter in der Kölner Stadtverwaltung, erläutert dem Gericht bereitwillig, auf welche Praktiken er in der freien Wirtschaft gestoßen sei. Er habe sich erst gewundert, dann aber gern zugegriffen, da ihm alles so leicht gemacht wurde. Er hatte ein reguläres Jahresgehalt von 110.000 Euro, das Eintrittsticket in eine neue schöne Welt, die sich ihm nun auftat. Die hier üblichen "Nebenverdienste" betrugen ein Mehrfaches seines regulären Gehalts. Vor allem mit Tochterfirmen des AVG-Teilhabers Trienekens/RWE hatte Eisermann im Durchschnitt etwa ein halbes Dutzend Beraterverträge, sie brachten anfangs 100.000 Euro im Jahr; im Spitzenjahr 2001 sogar 850.000. Er habe dann zwei eigene Beratungsfirmen gegründet, Orga Consult und Orga Service. Und er investierte in Firmenbeteiligungen, aus denen weitere Einnahmen flossen... So konnte er ohne großen Aufwand die Möglichkeiten der unteren Ränge in der sehr freien Wirtschaft wahrnehmen, auch während der Dienstzeit, mit Zustimmung seines Arbeitgebers - immerhin eines Unternehmens mit städtischer Mehrheit und mit einem Aufsichtsrat, der zum größten Teil aus Ratsmitgliedern der CDU, SPD und Grünen besteht.Oberstadtdirektor mit GedächtnisschwundLothar Ruschmeier war von 1990 bis 1998 Kölner Oberstadtdirektor und Aufsichtsratsvorsitzender der Abfallentsorgungsfirma AVG. Eisermann war sein Protegé - und die Kölner Müllverbrennungsanlage (MVA) ein Schwerpunkt seiner Amtszeit. Mit Regierungspräsident Antwerpes hintertrieb er einen Bürgerentscheid dazu.Auch bei diesem Zeugen versucht der Richter den freundlichen Einstieg. Warum wurde 1992 ein privates Unternehmen in die von der Stadt gegründete Abfallgesellschaft AVG hereingenommen? Antwort: "Ich kann mich an keine Gründe erinnern." - Warum Trienekens als Mitgesellschafter? "Ich weiß nicht." Ruschmeier kann sich an so gut wie gar nichts erinnern. Alle staunen. Er hat seinen langjährigen Anwalt Helmut Neumann bei sich. Neumann hat im Auftrag des Berliner SPD-Parteivorstandes die 35 Parteiordnungsverfahren gegen die Kölner Genossen wegen Spendenstückelung durchgezogen. Der Richter setzt noch einmal an: Haben Sie sich einmal mit Herrn Trienekens getroffen? Haben Sie sich über die MVA unterhalten? - "Das halte ich für möglich" - Ruschmeiers größtes Zugeständnis. Ob er sich erinnere, dass Regierungspräsident Antwerpes das Unternehmen Steinmüller für den Bau der MVA empfohlen habe, ohne Ausschreibung? Dass Trienekens Abfallverwertungs GmbH Köln (AVG) das Monopol auf die Anlieferung von zusätzlichem Müll zugestanden habe, um die MVA voll zu kriegen? Dass die Firma Isis, die für etwa 300 Millionen Mark den langfristigen Wartungsvertrag bekommen habe, eine Tochterfirma von Trienekens sei? - "Weiß ich nicht." Selbst die Frage, ob er Mitglied im Ausschuss für Personal und Finanzen des AVG-Aufsichtsrats gewesen sei, beantwortet der Zeuge, der ja immerhin seit Beginn 1992 bis zum Ende seiner Amtszeit 1998 Vorsitzender dieses Aufsichtsrats war: "Das weiß ich nicht. Es wird schon so gewesen sein." Wegen des exzessiven Gedächtnisschwunds ordnete das Gericht Razzien in Ruschmeiers Privatwohnung und bei seinem derzeitigen Arbeitgeber an. Er wird nun als Beschuldigter eingestuft. Aber warum, so fragen Beobachter, hat die Justiz nicht den Mut, den Vergesslichen zu fragen, ob die bisher unaufgeklärten Millionen des Schmiergeldes bei ihm angekommen oder durchgelaufen sind?Ratsmitglied als BoteKurt Schneider, Ingenieur, war für die SPD im Rat der Stadt Düsseldorf, von 1961 bis 1994. Er war befreundet mit dem Müllunternehmer Trienekens, denn der wollte zusammen mit seinem Hauptgesellschafter RWE nicht nur in Köln, Bonn und Aachen, sondern auch in Düsseldorf Fuß fassen. Schneider diente seinem "Freund" als Geldbote, Unterschriftenbereitsteller und Beziehungsknüpfer. Weil die Ermittlungen gegen ihn noch nicht abgeschlossen sind, ist er nicht angeklagt. Ein Steuerfahnder liest als Zeuge aus dem Protokoll der Vernehmung des Ratsherrn vor.Weil er sowieso nebenbei eine Zweitwohnung in der Schweiz hatte und in Wirtschaftskreisen verkehrte, kannte Schneider den Treuhänder Hofmann, der wiederum für Trienekens die Tarnfirma Stenna betrieb. Als Trienekens seinen Düsseldorfer "Freund" fragte, ob er "einige finanzielle Dinge regeln" könne, sagte der zu. Er bekam einen mit 2.500 Euro monatlich dotierten Beratervertrag. Auf die Frage nach dessen Inhalt folgt die Antwort: "Ich weiß nicht mehr, was in dem Vertrag stand, aber es war ein Beratervertrag. Ich sollte alles mögliche tun, was die von mir wollten, Leute fragen und so."Sechs oder sieben Mal sei er nach Zürich geflogen, habe dort am Flughafen Kloten Koffer mit Millionenbeträgen in Empfang genommen und in Viersen der Sekretärin von Trienekens ausgehändigt. Ob dieser Botendienst zum Vertrag gehört habe? "Nein. Aber ich würde aus meiner Sicht sagen: Ja!" - so die Antwort. Die Tickets sind von Trienekens bezahlt worden. Von den transportierten Summen habe er drei Prozent Provision bekommen und an der Grenze jedes Mal vor Angst geschwitzt. Er habe Rechnungen mit "Ingenieur Schneider" unterschrieben, die vom Treuhänder vorbereitet waren. Auf seine Funktion für den "Freund" Trienekens befragt, antwortete der Ratsherr ebenso realitätsnah wie bühnenreif: "Ich war eine Umgehung."Ein schuldloser VorsitzenderAxel Kaske sollte viele Jahre über die Korrektheit in der Kölner Stadtverwaltung wachen. Er ist SPD-Ratsmitglied und stellvertretender Fraktionschef, zugleich auch Vorsitzender des Rechnungsprüfungs-Ausschusses. Er wird als Zeuge befragt, ob der Ausschuss "Unregelmäßigkeiten" beim Bau der Müllverbrennungsanlage bemerkt hat. Der oberste Kontrolleur der Stadt ist einsilbig. Am Morgen der Zeugeneinvernahme hat er erfahren, dass nun gegen ihn selbst wegen Vorteilsnahme ermittelt wird. "Ich weiß nicht, ob ich mich strafbar mache, wenn ich hier aussage."Der Richter versucht es trotzdem. Entspreche es der Wahrheit, dass er bei drei Tochterfirmen des Müllunternehmens AVG im Aufsichtsrat sei? Der Zeuge bestätigt: "Ein üblicher Vorgang". Der Richter fragt nach den Namen der drei Tochterfirmen. Der Zeuge kann sie nicht so genau nennen und sucht in seinen Akten. Der christdemokratische Kölner Oberbürgermeister, der seinen Wahlkampf mit der Geißelung des "roten Klüngels" bestritt, hat Kaske die drei Aufsichtsratsposten genehmigt, wie er das immer tut, und wie er es auch bei den anderen Mitgliedern von CDU und SPD in diesen drei Aufsichtsräten getan hat. Die entsprechenden Sitzungen aller drei Firmen wurden jeweils am selben Nachmittag abgehalten, unmittelbar nacheinander, für ein bis zwei Stunden, dreimal im Jahr. Dafür erhielt Kaske - bis vor kurzem gut verdienender Verkaufsleiter bei der örtlichen Ford AG - wie die anderen Ratsmitglieder von CDU und SPD - 7.500 Euro im Jahr. Ob da nicht die Kontrolle im Ausschuss schwierig gewesen sei, fragt der Richter. "Darüber habe ich mir zum damaligen Zeitpunkt keine Gedanken gemacht." Ob er inzwischen aus den Aufsichtsräten ausgeschieden sei? "Nein, das sähe ja aus wie ein Schuldbekenntnis."Der Regierungspräsident, ein KabarettistDr. Franz-Josef Antwerpes ist der "mediengeilste Regierungspräsident Deutschlands". Diese "Kritik", die am häufigsten in den Medien geäußert wurde, die jede Kleinigkeit über ihn berichteten, hat der langjährige Leiter der Kölner Bezirksregierung, wie sein Titel eigentlich hieß, immer als Anerkennung empfunden. Die Boulevardpresse nannte ihn wegen seines autoritär-populistischen Stils bis zum Ende seiner Amtszeit 2000 "Kurfürst von Köln". Mit den Genossen Ruschmeier und Klaus Matthiessen, dem damaligen NRW-Umweltminister, war er der Hauptantreiber für möglichst viele Müllverbrennungsanlagen.Seine Zeugenbefragung verkommt zur Kabarettveranstaltung. "Ich habe zwar schon alles erzählt, aber noch nicht allen", erklärt Antwerpes dem Gericht. Gedächtnisschwund schützt der "Kurfürst" nicht vor. Im Gegenteil, er könne sich "an alles" erinnern. Ob er den Müllunternehmer Trienekens kenne. "Natürlich kenne ich den. Ich habe den oft getroffen. Ich habe den immer gefragt, warum er in Köln und Bonn und Viersen und Kleve undsoweiter Politiker auf Geschäftsführerposten hievt, obwohl die Null Ahnung haben." Ob er von Beraterverträgen gehört habe, die Trienekens vergeben habe? Natürlich hat Antwerpes davon gehört. "Colorandi causa", wie er sich ausdrückt, wolle er ein Beispiel geben: er habe den ehemaligen CDU-Fraktionschef im Landtag und Präsidenten des 1. FC Köln getroffen, Herrn Worms, und der habe ihm erzählt, er habe jetzt auch einen Beratervertrag mit Trienekens. Auf die Idee, dass er hier als Leiter der Kommunalaufsicht einmal hätte prüfen müssen, ob da alles mit rechten Dingen zugeht, kam der "Kurfürst" nicht. Befragt, ob er damals etwas von Schmiergeld gehört habe, gibt er zurück: "Da habe ich gar nichts gehört. Das widerspricht auch meinem Menschenbild. Ich hätte nie geglaubt, dass Trienekens und Eisermann und Michelfelder etwas mit Schmiergeld zu tun haben könnten." Und er beschwert sich: "Ich hatte doch eigentlich den meisten Ärger mit der Genehmigung der MVA, und ich bekam kein Geld. Das ist doch ungerecht." Die Richter und Schöffen und Anwälte lachen, auch viele Journalisten lachen, am lautesten der von der Süddeutschen Zeitung, der sein optimistisches Menschenbild zum Besten gibt: "Herr Esser von Mannesmann hat die Preise endgültig verdorben. Unfassbar."Siegreich schreitet der "Kurfürst von Köln" aus dem Zeugenstand. Kumpelhaft begrüßt er einzelne Journalisten, die sich über den Gunstbeweis freuen. Möglicherweise muss er zum WDR eilen, dort war er schon zu seiner aktiven Zeit nicht nur vielgefragter Interviewpartner, sondern auch Moderator einer Talkshow, jetzt hat er eine TV-Serie über die besten Köche von Köln und Umgebung. Der Staatsanwalt, der keine Frage los wurde, behilft sich mit Sarkasmus: Mit "Fastelovend zesamme" geht er in die Mittagspause.Epilog: "Wir alle sind korrupt"Als alle den Gerichtssaal verlassen, kommt ein Schöffe auf mich zu und fragt aufgeschlossen: "Sind Sie Herr Prantl, der von der Süddeutschen? Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, im Presseclub." Ich blicke ihn leicht irritiert an. Der Schöffe lässt sich nicht bremsen: "Sie haben einen wunderbaren Kommentar geschrieben, jetzt zur Korruptionsaffäre beim Münchner Fußballstadion: Wir alle sind korrupt! Soweit sind wir wirklich. Endlich ist einer mal ehrlich." Ich frage zurück, ob dann auch Prantl und er korrupt seien? Der Schöffe blickt mich entgeistert an. "Was unterstellen Sie da? Sind Sie gar nicht Herr Prantl?"n
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