Kehrseite Zwischen meinem sechsten und achten Lebensjahr wurde ich in den Sommerferien für jeweils zwei Wochen ins Pionierferienlager "Freundschaft" am ...
Zwischen meinem sechsten und achten Lebensjahr wurde ich in den Sommerferien für jeweils zwei Wochen ins Pionierferienlager "Freundschaft" am Glubbigsee verschickt. In den ersten Schuljahren hatte ich gute Zensuren. Weshalb sollte ich Berlin verlassen? So schön war es am Glubbigsee, mitten im Wald, auch wieder nicht. Eigentlich habe ich nur noch in Erinnerung, dass ich damals noch nicht Fahrrad fahren konnte, weshalb ich an den Tagen, an denen die Radtouren stattfanden, immer ins Lagerkrankenhaus eingewiesen wurde.
Ich lernte Fahrrad fahren und errang während der Ferienolympiade im Dreierhopp eine Bronzemedaille. Somit qualifizierte ich mich für das Pionierferienlager "Fritz Heckert" in Plau am See. Irgendwie gab ein Zeltlager auch mehr her. Ich war nun zwölf Jahre
;lf Jahre alt und verließ ganz gern mal Berlin. Meine Zeugnisse waren inzwischen erbärmlich. Wie sollte ich damit in Berlin eine Freundin finden? Im Ferienlager wusste niemand von meinen Zensuren. Außerdem sah ich gar nicht mal so schlecht aus und konnte anziehen, was ich wollte.Ich hatte Katharina im Auge. Sie trug lange schwarze Haare. Kurze blonde wären mir auch recht gewesen. Eigentlich war sie mir zu hart, mit ihren Rolling Stones und so. Um 22 Uhr war Nachtruhe angesagt. Zeit zum Aufbruch! Mario und ich schlichen zum Mädchenzelt. Wir krochen unter der Zeltwand hindurch. Von den vier Doppelstockbetten hatte ich auch gleich das richtige erwischt. Sie war nicht überrascht. "Hallo Katharina! Ick find dich gut. Lass mich mal kurz mit unter deine Bettdecke!"Es ging Holterdipolter. Plötzlich rückte die Nachtwache an. Mario schlug Alarm. Wir flüchteten in unser Zelt. Immerhin waren wir jetzt unter der Haube. Wir tauschten unsere Erfahrungen aus. Jedem von uns war es peinlich, unter einer nahezu fremden Bettdecke eine Erektion bekommen zu haben. Dagegen half auch keine schwierige Matheaufgabe. Es war die Zeit der unwillkürlichen Samenergüsse. Wir suchten regelmäßig das andere Zelt auf. Katharina wollte nicht küssen. Ich sollte immer meinen Arm so rüber legen. Aber über der Bettdecke! Ein anderes Mädchen fand, dass das süß aussah. Sie setzte sich gern zu uns auf die Bettkante. Ihr Name war Sabrina. Wir hatten in der Disko schon zusammen getanzt. Aber leider nur auf Queen. We will rock you. Also kniend und mit den Händen immer auf den Tanzboden klatschend. Es war der härteste Tanz, den wir uns vorstellen konnten. Unsere Gruppenleiter schwärmten durch das Diskozelt und forderten uns auf, endlich aufzustehen, weil diese dekadente Tanzerei verboten wäre. Wir wussten nicht, was dekadent war, aber verboten klang nach weiter ärgern. Ob ich jemals mit Katharina getanzt habe, weiß ich nicht mehr.Sabrina saß wieder einmal auf unserer Bettkante. Leider war sie schon vergeben, weil Dirk, ein blonder Junge aus unserer Gruppe, vom Mädchenzelt einen Zettel bekommen hatte, auf dem viele Mädchennamen aufgelistet waren. Er sollte ankreuzen, mit welchem Mädchen er gehen wollte. Er hatte sein Kreuz hinter Sabrinas Namen gemacht. Schade. Jetzt gingen Dirk und Sabrina miteinander. Er lag bei Manuela im Bett, und Sabrina saß bei Katharina und mir auf der Bettkante. Plötzlich rückte die Nachtwache an. Sabrina sprang in ihr Bett. Ich verkroch mich unter Katharinas Decke. Der Nachtwächter setzte sich auf die Bettkante. Nun plauderten Katharina und er über den abgelaufenen Tag. Wahrscheinlich wusste er nicht genau, ob ich mich darunter verkrochen hatte. Er traute sich wohl auch nicht, einfach unter Katharinas Bettdecke zu gucken. Ich rührte mich nicht. Diese Hitze war kaum auszuhalten! Es war der Höhepunkt unserer Beziehung. Nach einigen Minuten ging der Nachtwächter. Überhaupt: Dieser ganze Stress mit Katharina! Wir konnten nichts miteinander anfangen. Da war es auch schon egal, dass ich am Wandertag keine drei Mark für Verlobungsringe hatte. Was sollten wir machen? Geschlechtsverkehr war uns zu abgefahren, und ficken war nur was für Sonderschüler! Es war eine harte Zeit. Heutzutage wird sie gern verklärt.Andreas GläserWo soll das nochhinführen?Also, normal ist das ja nicht. 98 soll der sein, haben sie im Fernsehen gesagt, 98! Und der hat zum zwölften Mal das goldene Sportabzeichen für Hochaltrige gemacht oder so ähnlich. Es stimmt schon, dass der keinen Tag älter aussah als 98 und das ist ja auch ein schönes Ergebnis. Aber mager war der, so was von dünn, Haut und Knochen, aber das soll ja das Gesunde daran sein. Man darf heutzutage nicht so alt aussehen wie man ist, das sehe ich ein, und ich schätze grundsätzlich alle Leute mindestens zehn Jahre jünger, wenn die mich fragen, wie alt schätzen Sie mich, in so ´nem komischen Ton, dass man schon weiß, man darf nicht die Wahrheit sagen und die erzählen mir dann schon vorher, dass sie jetzt Marathon machen, das macht nun wirklich jeder momentan und ich weiß eigentlich, dass sie mindestens 75 sind und auch so aussehen und dann sage ich, "höchstens 65" und dann sagen sie "ha, ha, wo denken Sie hin!" und dass sie sich wahnsinnig fit halten und sich wie neu geboren fühlen und innerlich durchgepustet und von allem Möglichen befreit. Wie neugeboren möchte ich mich gar nicht fühlen, man hat doch was geleistet im Leben, was man auch behalten sollte. Und ob das nun sein muss, so schrecklich dünn dabei zu sein, das weiß ich nicht. Sicher, sie sagen ja jetzt, man soll sein Fettgewebe abbauen und ich achte auch drauf, dass ich nicht so aus dem Leim gehe, aber ich würde niemals dafür so ein Abzeichen zwölfmal machen. Zwölfmal! Dass dem das nicht langweilig wird und was eigentlich seine Frau dazu sagt, das haben sie nicht gezeigt. Wenn mein Mann so unentwegt durch die Gegend rennen würde in seinem Alter, da wäre ich aber dagegen, man muss doch auch mal zur Ruhe kommen. Ich fände das nicht gut, wenn mein Mann in seinem Alter mit diesen kurzen Hosen öffentlich rumrennen würde, man muss doch gerade, wenn man älter wird, ein bisschen auf sich achten und wenn man dann so wahnsinnig dünn wird und dann diese kurzen Hosen trägt, ob das nun das Richtige ist. Den ganzen Tag im Trainingsanzug und immer mit so ´nem Handtuch um Hals, wie sie das jetzt zeigen in dieser einen Sendung für sportliches Altern, also, ästhetisch ist das nicht. Schließlich, so schön ist das alles nicht mehr, was man da so sieht, da können die so dünn sein, wie sie wollen. Und die haben auch gar nichts zuzusetzen, wenn sie mal was haben. Aber wahrscheinlich kriegen die nichts mehr und ich frage mich doch, wo das letztlich hinführen soll, wenn dieser Mann mit seinen 98 nun immer weiter dieses Abzeichen macht, wo soll das denn eigentlich enden?
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.