Er habe seit langem, schreibt Jorge Semprun im Vorwort zur deutschen Ausgabe, auf diesen Roman gewartet, darauf, dass die Fiktion, "kühn und bescheiden", jenes konkrete Gedächtnis an die Erfahrung der Vernichtungslager übernimmt und wach erhält, das mit dem Tod der letzten Überlebenden zu verschwinden, musealisiert, archiviert zu werden droht. Kühn, weil sie sich über die aus guten Gründen bestehende Scheu hinwegsetzen muss, gerade dieses Thema zum literarischen Stoff zu machen; bescheiden, weil sie das nur wagen kann und darf, wenn sie sich an die historische Wahrscheinlichkeit hält - sofern man in diesem Zusammenhang, wo das Unwahrscheinlichste, Unvorstellbarste Wirklichkeit war, von Wahrscheinlichkeit sprechen kann.
Soazig Aaron, Französi
nzösin, Jahrgang 1949, scheint alles gelesen zu haben, was an Berichten, Untersuchungen, Reflexionen darüber erschienen ist. In diesem, ihrem ersten Buch sind viele dieser Stimmen zu hören, es antwortet´ ihnen - im Sinn Celans. Vor allem dem eindringlichen, bestürzenden Satz von Marguerite Duras in Der Schmerz, in dem sie über die Rückkehr ihres Gefährten Robert Antelme aus Buchenwald berichtet: "Wenn dieses Naziverbrechen nicht auf der Kollektivebene verstanden wird, dann ist der Mensch der Konzentrationslager ... verraten worden. ... Die einzige Antwort, die sich auf das Naziverbrechen geben läßt, ist die, daraus ein Verbrechen aller zu machen. Es zu teilen." Dies ganz und gar nicht im Sinne von Vergebung oder gar Gnade für die Täter, sondern um sich der Tatsache zu stellen, dass es als Menschenmögliches in der Welt ist und bleibt, so sehr wir es auch auf ein bestimmtes System, eine bestimmte Nation zu begrenzen, zu historisieren oder, in Duras´ Worten, zu "regionalisieren" versuchen. Denn im Mittelpunkt von Soazig Aarons Buch steht das Verbrechen, und das bewahrt es für sich schon vor dem Abgleiten in hilfloses Pathos oder schlimmer noch Sentimentalisierung.Auch Soazig Aaron hat, wie Marguerite Duras, die Tagebuchform gewählt - allerdings konnte sie als "Nachgeborene", die bewusst und erkennbar eine Fiktion schreibt, tatsächlich wählen; und sie schlägt einen distanzierteren (gelegentlich auch scheinbar leichten) Ton an. Sie lässt Angelika, die Freundin und Schwägerin Klaras, Tagebuch führen: "Sonntag, 29. Juli 1945 Klara ist zurückgekehrt. So, da steht es, geschrieben. Ich muß es schreiben, damit es wirklicher wird und um daran zu glauben." Doch trotz der Tagebuchform ist das Buch vielstimmig: Angelika notiert vor allem Gespräche, mit ihrem Mann, mit Freundinnen und Freunden - und mit Klara, Deutsche, Jüdin, aus Berlin nach Paris emigriert, nach drei Jahren aus Auschwitz zurückgekehrt (sie sagt Oswieczim, sie weigert sich, den Namen zu verwenden, "den die Deutschen dafür erfunden haben"), die nach und nach zu reden beginnt: Bruchstücke, Momentaufnahmen, Ausschnitte.In dieser außerordentlich klug angelegten Struktur, in der ständigen Reibung zwischen dem trotz Krieg und Besatzung halbwegs normal gebliebenen Leben Angelikas und ihrer Freunde - auch dem der Nachgeborenen, dem unseren -, ihrem Wunsch nach Rückkehr zur Normalität, zum Status quo ante, und der Unmöglichkeit einer solchen Rückkehr für Klara - und angesichts ihrer Erfahrungen auch für die anderen, für uns - gewinnt das Buch seinen ganz eigenen Raum und seine Kraft. In diesem Wechsel ist die Kluft, die Wunde, die Frage ständig gegenwärtig, die offen bleibt, offen gehalten wird. Nicht weil es keine Antworten auf das Warum der Lager gäbe, es gibt viele, sondern vielleicht weil die Frage nicht mehr gestellt, in Worte gefasst werden kann, weil diese Worte von dieser Wirklichkeit alle zunichte gemacht worden sind. Aber das Buch macht es sich nicht einfach, es stellt die Fragen, es tastet sich vor. Klara sagt, was zu sagen ist: über das Schuldgefühl, die Schuld, noch am Leben zu sein; über die absolute Sinnlosigkeit; über die Unzulänglichkeit der Philosophie, des Glaubens; über die des Rechts, das die Barbarei zum Gesetz erhoben hat; über die Unmöglichkeit, dem zu entkommen. Angelika widerspricht - und diese Seiten sind von einer Offenheit, die bestürzend ist, weil sie befreit, zumindest ein Stückweit ...Man hat dem Buch in Frankreich hie und da seine "Negativität" vorgeworfen, Klaras NEIN zu allem, sogar zu ihrer vierjährigen Tochter, die sie nicht wiedersehen, nicht zu sich nehmen will - "ich schmecke nach Tod, ich stinke nach Tod, für lange noch, vielleicht für immer" - und der man sagen soll, ihre Mutter sei in Auschwitz gestorben, damit sie nicht verlassen wird, nicht erlebt, was kein Kind unbeschadet übersteht ("Wir hatten eine glückliche Kindheit. Warum nicht sie?"). Das ist das erste, was Klara sagt, "Je ne veux pas", ich will nicht, mit ihrem harten deutschen Akzent, "den sie nie verloren hat, weder im Französischen noch im Englischen". Doch ist dieses fast - nur fast! - kreatürliche Nein, das Nein des Protests, des Aufbegehrens, des Widerstands, nicht die unabdingbare Voraussetzung jeder Antwort, auf dieses Verbrechen wie auf alle anderen? Ist es nicht die Fähigkeit, nein zu sagen, nein zu denken, was den Menschen ausmacht? Freud hat in der Verneinung die Basis der menschlichen Vernunft, die "Unabhängigkeit ... vom Zwang des Lustprinzips" gesehen (vom "Zwang des Lustprinzips", nicht von diesem selbst).Gerade in diesem Nein, weil es dem Verbrechen dieses unbedingte und konkrete Nein entgegensetzt, ist dieses Buch "positiv". Es verwehrt sich auch die Flucht in den Nihilismus. Und in dem Prozess, den Klaras Freunde durchmachen, in diesem Versuch, zu verstehen und sich mit Klara zu verständigen, der - und unter wie glücklichen Umständen, verschweigt das Buch nicht - ansatzweise gelingt, eröffnet es auch eine Perspektive, ohne einen Hauch von Erbaulichkeit. Das (Tage-)Buch endet mit dem merkwürdigen Satz: "Klara wie eine Baustelle." Das ist, ohne die Bitterkeit irgendwie zu beschönigen, eine Einladung. In der Tat ist dieses Buch ein Geschenk, eins der wichtigsten Bücher der letzten Jahre: Man könnte sich kaum eine bessere, kundigere, warmherzigere, mutigere Begleiterin auf dieser "Baustelle" wünschen, bei dem Versuch, die Auswirkungen dieses Verbrechens zu verstehen, als Angelika mit ihren Abwehrreaktionen, ihrem Zögern, Entsetzen, und mit ihrem Mut und ihrer Nüchternheit.Soazig Aaron: Klaras NEIN. Mit einem Vorwort von Jorge Semprun. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Friedenauer Presse, Berlin 2003, 188 S.,19,50 EUR
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