Er ist ein Sozialpolitiker der alten Schule. Er kennt noch den "radikalen Umverteiler" Hans Katzer (CDU), Sozialminister im Kabinett Kiesinger, und natürlich Norbert Blüm, den er schätzt. Als ich ihn am Rande eines Sommerfestes des AOK Bundesverbandes in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin treffe, komme ich kaum an einem Tisch vorbei, von dem nicht ein freundliches "Hallo!" schallt und er Hände drücken muss. Fast ein halbes Jahrhundert ist er der SPD treu geblieben, er war Juso-Vorsitzender und saß für die Sozialdemokraten im Wormser Stadtrat. Heute ist er unter anderem Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des AOK-Bundesverbandes und DGB-Vorsitzender in Worms. Im Mai, nachdem die SPD auf dem Sonderparteitag die Aufhebung der paritätischen Finanzierung des Krankengeldes beschloss, hatte er die Nase voll und trat aus der Partei aus.
FREITAG: Herr Boegler, Sie haben nach 47 Jahren Mitgliedschaft in der SPD das Handtuch geworfen und sind ausgetreten - warum?
HEINER BOEGLER: Der Hauptgrund war, dass in der SPD nicht mehr wie das früher noch der Fall war, grundsätzliche Änderungen und Entscheidungen, beispielsweise in der Sozialpolitik, von der Basis über die Bezirks- und Landesebene eingebracht und diskutiert werden. Die gegenwärtige Praxis ist vielmehr so, dass der Parteivorsitzende etwas vorgibt, was von der Partei abgenickt werden soll. Ich bin ein Sozialist und Demokrat, für mich war das mit meinem Selbstverständnis nicht mehr vereinbar. Die Spitze dieser Praxis wurde mit dem Gesundheitsreformgesetz erreicht, das vom Kanzler gegen vielfachen Widerstand einfach von oben durchgesetzt wurde. Wenn ich in einer Diskussion unterliege, kann ich das akzeptieren. Aber die Basta-Politik des Kanzlers wollte ich nicht mehr mittragen.
Haben Sie einen Überblick, wie viele Ihrer Genossen aus ähnlichen Gründen aus der Partei ausgetreten sind?
Mir ist bekannt, dass in diesem Jahr etwa 28.000 Mitglieder aus der Partei ausgetreten sind. Teilweise aus inhaltlichen Gründen, teilweise, weil ihnen die Art, wie Beschlüsse durchgesetzt werden, nicht mehr passte.
Was stört Sie an diesem Reformwerk besonders?
Das Gesetz ist ein Paradebeispiel für den Paradigmenwechsel in der Partei. Einmal wird das Prinzip der Solidarität verletzt. Es setzt auf Eigenverantwortung, ohne zu berücksichtigen, dass Eigenverantwortung nur von demjenigen übernommen werden kann, der wirtschaftlich dazu auch in der Lage ist. Zum zweiten trifft das Gesetz vor allem die Älteren und chronisch Kranken, für die Leistungen gekürzt bzw. verteuert werden und für die dadurch der Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung erschwert wird. Ich kann an diesem Gesetz überhaupt keine sozialen Aspekte mehr sehen.
Dass alte Menschen von dem Entwurf besonders negativ betroffen würden, wird aber vielfach bestritten.
Das Reformgesetz wird unter anderem mit dem demographischen Wandel begründet. Wenn man sich allerdings die konkreten Veränderungen ansieht, hat dies in dieser Hinsicht überhaupt keine Auswirkungen, es werden die Lasten nicht auf mehr Schultern verteilt, sondern einseitig die kranken und alten Menschen belastet. Schon jetzt wird die nächste Etappe der Reformagenda diskutiert. Beispielsweise sollen die Rentner auch das Krankengeld, das sie niemals mehr beziehen werden, mitfinanzieren. Ganz davon abgesehen, was über die Renten- und Pflegeversicherung noch auf die älteren Menschen zukommen wird.
Das demographische Argument ist aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen?
Wer heute leugnet, dass sich die Lebenszeit verlängert und immer mehr ältere Menschen immer weniger jungen gegenüberstehen, mogelt sich an den Tatsachen vorbei. Auf der einen Seite kämpfen wir ja gesundheitspolitisch ganz bewusst dafür, dass immer mehr Menschen immer länger gesund leben können. Es ist aber auch so, dass sie am Ende ihres längeren Lebens unter Umständen schwerer erkranken und damit auch teurer werden für die Gesundheitskassen. Die Diskussion geht jedoch in die falsche Richtung, wenn das Älterwerden als Kardinalproblem diskutiert wird. Dramatischer ist, dass die Beiträge aus den Erwerbseinkommen wegbrechen und damit die Kassenbeiträge sinken, der Teufelskreis ist bekannt. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber die Kassen, auf deutsch gesagt, bestiehlt, weil er beispielsweise Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz und dem dritten Sozialgesetzbuch (Sozialhilfe) nur noch mit einer bestimmten Höhe zugrunde legt und nicht mehr im tatsächlichen Umfang. Das entzieht den Kassen ungefähr fünf Milliarden Euro, ein Ausfall, der mit zu der derzeitigen Finanzierungslücke beiträgt.
Aber ist es einzusehen, dass beispielsweise wohlhabendere Rentner mit weiteren Einkommen nicht in die solidarische Finanzierung miteinbezogen werden?
Natürlich ließe sich darüber nachdenken, ob die Grenze der Solidargemeinschaft, also die Beitragsbemessungsgrenzen, nicht höher anzusetzen ist und darüber hinausgehende Einkommen mit herangezogen werden könnten. Ich bin durchaus dafür, Einnahmen aus Vermögen und Kapitalerträgen in die Beitragsbemessung mit einzubeziehen, und wer drei oder vier Wohnungen vermietet, kann aus den Mieterträgen durchaus auch einen Beitrag an die Solidargemeinschaft entrichten.
Sie hatten gehofft, dass Ihre SPD-Genossen auf dem Sonderparteitag die Notbremse ziehen würden. Warum, denken Sie, sind sie so kläglich gescheitert?
Für mich ist die SPD keine sozialdemokratische Partei mehr. Diejenigen, die sich überhaupt noch sozialpolitisch engagieren in der Partei, brechen ein, weil sie den Kanzler fürchten, der - ich sage das in aller Offenheit - so brutal ist, dass er jedem mit Parteiausschluss droht, wenn er sich nicht seiner Linie anpasst.
Sie halten den Widerstand der 17 Abgeordneten, die angekündigt haben, gegen das Gesetz zu stimmen, also für reine Kosmetik?
Auf dieser Veranstaltung hier sind viele, die dem Gesetz grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen und auch widersprochen haben. Ich bin mir aber sicher, dass nicht alle 17, die am vorletzten Montag in der Fraktion widersprochen haben, auch im Bundestag mit Nein stimmen werden. Sie werden nicht diejenigen sein wollen, die unter Umständen die Kanzler-Mehrheit gefährden. Aber selbst wenn sich nur ein paar dazu durchringen und er das Gesetz nur mit den Stimmen der Opposition durchbringen kann, ist das für den Kanzler ein Gesichtsverlust. Es kann also sein, dass das Jahr 2003 doch noch Überraschungen bringen wird.
Wo, denken Sie, könnte man als Sozialpolitiker heute noch eine politische Heimat haben?
Ich für meinen Teil werde mich im Moment in keiner Partei zurechtfinden. Ich halte die Praxis, der sich ja auch die Opposition angeschlossen hat, nämlich die Politik Kommissionen zu übertragen, für falsch. Wenn Wissenschaftler Empfehlungen abgeben, die von Abgeordneten nur noch nachvollzogen werden, das ist doch keine Politik mehr! Die Abgeordneten werden doch nicht dafür gewählt, aus den Menüs von Rürup oder Hartz etwas auszuwählen; das ist doch Schwachsinn.
Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
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