Ick wär´ so gern ein Zonenkind

Verwöhnte Westgören (2) Manuel ist Neuberliner. Seit einigen Monaten pilgert er regelmäßig in verrauchte Cafés und Clubs, um den frischen Goldjungs aus Ostdeutschland oder ...

Manuel ist Neuberliner. Seit einigen Monaten pilgert er regelmäßig in verrauchte Cafés und Clubs, um den frischen Goldjungs aus Ostdeutschland oder gar Osteuropa auf ihren Lesebühnen zuzuhören. Manuel ist begeistert. Die Ost-Literaten verstehen es einfach, ihr zumeist westdeutsches Publikum immer wieder mit ihrer Sicht auf dieses Land und ihrer so ganz anderen Lebensart zu verblüffen. Diese Zonenkinder mit ihrem waschechten Regime-Trauma. Sie wissen von was sie erzählen, wenn es um Unsicherheit, Armut und Proletariat geht. Sie haben einfach etwas zu sagen, einfach so, weil sie im Osten aufgewachsen sind und vielleicht auf dem Bau gearbeitet haben.

Aber soll man da als verwöhnte Westgöre nur zuhören und begeistert Applaus spenden? Oh, nein. Auch Manuel will dazugehören und er wird bald einer von ihnen sein! Er wird sich sein eigenes inspirierendes Trauma holen und dann auch etwas zu sagen haben!

Manuel ist jetzt fast dreißig und noch Student. Philosophie, Pädagogik oder so was in der Richtung steht auf dem Studentenausweis. Von innen sieht er die Uni aber nur, wenn er sich für das nächste Semester wieder einschreiben muss. Abschließen wird er sein Studium eher nicht.

Es lebt sich ja auch so ganz gut. Manuel spielt in einer Band und die Miete zahlen die Eltern. Der Junge soll ja glücklich sein und er verdient sich ja auch etwas dazu. Zum Beispiel als Taxifahrer. Das hat er schon früher in seiner westdeutschen Heimatstadt getan, jetzt macht er den Schein für Berlin. Coole Sache! Das macht Spaß und was ist denn am Taxifahren eigentlich so übel? Unglaublich interessante Dinge wird er erleben, die wahnsinnigsten Geschichten zu hören bekommen und am eigenen Leib erfahren, was es heißt, nicht privilegiert zu sein! Dann endlich wird auch Manuel so weit sein, dann weiß auch er, worum es im Leben wirklich geht. Und dann kann er darüber schreiben und mit vierzig sein erstes Buch herausbringen.

Außerdem wird er sicherlich bald richtig berlinern können. Damit ist die neue Identität geboren und Manuel kann sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen. Auch er wird dann regelmäßig auf Berliner Lesebühnen stehen und das Publikum mit kleinen Geschichten über seinen jetzt endlich auch interessanten Alltag erfreuen, die er in den Pausen am Taxistand aufgeschrieben hat. Dann wird er Zonenkind sein und man wird ihn ernst nehmen!

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