Identität in der Krise

Kino Der Film „Defamation“ von Yoav Shamir ist dem Antisemitismus auf der Spur und findet ihn erwartungsgemäß schnell. Sein eigentliches Thema ist die jüdische Identitätskrise

Das Problem mit Meinungen ist: Jeder hat eine. Und die mit der geringsten Ahnung schreien oft am lautesten. Wer sich einmal die Zeit nimmt, den Teilnehmern unserer Informationsgesellschaft zuzuhören, kommt manchmal aus dem Staunen nicht heraus. Israel ist etwa eines dieser Themen, zu dem jeder etwas zu sagen hat, ganz unabhängig von der individuellen Informationslage.

Diese Erfahrung muss auch der israelische Filmemacher Yoav Shamir in seiner Dokumentation Defamation machen. Shamir ist einem Phänomen auf der Spur, das er selbst nach eigenem Bekunden nur aus den (israelischen) Medien kennt: dem Antisemitismus. In seinem lesenswerten Buch The Changing Face of Anti-Semitism beschreibt der amerikanische Historiker Walter Laqueur Antisemitismus als eine Erscheinung, die knapp 2.000 Jahre in immer neuen Manifestationen überdauert hat. Es ist jedoch nicht der historische Antisemitismus, der Shamir interessiert. Welchen konkreten Gefahren, fragt der Filmemacher in leicht schelmischem Tonfall, sind Juden über sechzig Jahre nach dem Holocaust tatsächlich noch ausgesetzt? Und woran erkennt man einen Antisemiten heute?

Um Kopf und Kragen

Natürlich sind die Antworten auf solche Fragen nicht nur davon abhängig, wem man sie stellt – sondern auch wie. Methodisch geht Shamir nur insofern vor, als dass er sein Gegenüber die Arbeit machen lässt. Es gibt kaum einen, der sich in Defamation nicht um Kopf und Kragen redet. Die landläufigen Ressentiments sind deshalb schnell abgearbeitet: Seine Großmutter, eine Zionisten von altem Schrot und Korn, hält amerikanische Juden für faul und geldgierig, ein arabischer Taxifahrer weiß, dass Juden die Geschicke der Welt lenken, und eine Gruppe schwarzer Jugendlicher in Brooklyn diskutiert über die Protokolle der Weisen von Zion. Einen Zusammenhang zwischen diesen antisemitischen Evergreens und dem zyklischen Erstarken von Antisemitismus will Shamir zunächst nicht erkennen. So dauert es eine frustrierende Dreiviertelstunde, bis Defamation zum eigentlichen Kern der Problematik vordringt: dem aktuellen Israel-Palästina-Konflikt und dem Verhältnis von Antisemitismus und Antizionismus. Aber auch hier prallen die Meinungen mit ideologischer Inbrunst aufeinander. Shamir fungiert weder als Vermittler noch als Interpret, seine Feldforschungen führen ihn nicht einmal in den Gaza-Streifen. Er hätte dort reichlich Anschauungsmaterial gefunden.

Mit zunehmender Spieldauer wird dann auch deutlich, dass der Antisemitismus der Anderen gar nicht das Thema von Defamation ist. Vielmehr beschwört Shamir eine Krise der jüdischen Identität herauf, in der die Erinnerung an den Holocaust noch immer eine zentrale Rolle spielt. Das Hauptproblem der Juden ist seiner Ansicht nach die endlose Selbstbeschäftigung mit dem Antisemitismus – gleichgültig dessen unmittelbarer Evidenz. Kronzeuge dieser Argumentation ist Abe Foxman, Holocaust-Überlebener und Vorsitzender der amerikanischen Anti Defamation League, der sich – eigentlich nicht anders als Shamir – das Aufspüren von Antisemitismus zur Aufgabe gemacht hat. Im Gegensatz zu Foxman allerdings ist Shamir Verfechter eines fröhlichen Fortschrittsgedankens, der mit der Vergangenheit gerne abschließen würde. Nur unterschlägt sein optimistischer Blick nach vorn leichtfertig die Tatsache, dass Antisemitismus im Mittleren und Nahen Osten bis lange vor die Gründung des Staates Israel zurückreicht.

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