Freitag: Der Amoklauf des jugendlichen Schützen in Bad Reichenhall legt die Frage nahe, wird Töten zum Spiel jugendlicher Gewalttäter?
Susanne Karstedt: Amoklauf ist niemals ein Spiel. Er wird als Tat wesentlich durch den am Ende stehenden Selbstmord strukturiert. Und ist eigentlich nur im Kontext mit Suizid, mit Selbstzerstörung zu sehen. Aggression gegen andere macht die Selbstzerstörung publik, hebt sie heraus. Es ist diese Mischung, die Amoklauf von anderen Gewalttaten abhebt.
Schulfreunde haben von Hitlerbildern, Waffenvernarrtheit, einem Hang zu Gewaltvideos berichtet. Steht das in einem Zusammenhang zur Tat?
Wieweit durch eine Verbindung zum Rechtsextremismus Amoktaten begünstigt werden, ist schwer zu sagen; es ist möglich. Einige Amokläufer haben durchaus merkwürdige ideologische Orientierungen gehabt: Übersteigerte, überspannte Vorstellungen davon, wie die Dinge zu sein hätten, allein gelassen, kämpfend gegen die ganze Welt, ungerecht behandelt, verfolgt. Ich würde allerdings eher eine andere Kausalität sehen: die ideologischen Orientierungen werden genutzt, um die Situation vor sich selber darzustellen und zu rechtfertigen.
Hat die Zahl jugendlicher Gewalttaten insgesamt zugenommen?
Eine Schülerbefragung, die den Zustand Ende der achtziger Jahre, Anfang der neunziger und heute vergleicht, konstatiert, dass weniger schwere Formen von Aggression zugenommen haben. Eine Studie aus Bayern belegt, dass der Anstieg in den neunziger Jahren weder besorgniserregend, noch besonders dramatisch ist. Auf der anderen Seite ist das Niveau von Gewalt in der Schule - kleinere, subtilere Formen, wie sie bei Jugendlichen üblich sind, eingerechnet - nicht unbeträchtlich. Gewalt hat eindeutig zugenommen und erreicht ein relativ hohes Niveau innerhalb spezifischer ethnischer oder rechtsradikaler Gruppen, und in den neuen Bundesländern. Hier ist die Gruppe junger Erwachsener mit involviert.
Stimmt der Eindruck, dass die Intensität gewalttätiger Auseinandersetzungen gewachsen, die Hemmschwelle also deutlich gesunken ist?
Es gibt eine Reihe spektakulärer Fälle, bei denen ganz offenkundig der Tod des Opfers in Kauf genommen wurde. In Nordrhein-Westfalen gab es den Fall, dass vier Jugendliche einen Obdachlosen erschlagen haben, die Fälle von tödlicher Gewalt gegen Ausländer gibt es in der ganzen Republik; Gewalt ohne Stopp, ohne innere Barriere.
Gegen wen richtet sich Jugendgewalt vornehmlich?
Ganz überwiegend gegen die eigene Altersgruppe der 15 bis höchstens 25/ 30jährigen. Opfer wie Täter sind Männer. Zweitens gegen die, die als fremdartig, andersartig, störend oder als "Feind"-Gruppe ausgemacht werden. Das kann Jugendliche treffen, die über mehr Geld verfügen und denen man die Jacken raubt, was ja auch eine Form von Gewalt ist. Es kann gegen Personen gehen, die man selbst als ganz "unten" sieht wie im Fall des Obdachlosen. Typisch sind derzeit auch Auseinandersetzungen zwischen Gruppen: man geht gemeinsam gegen "Feinde" oder Gegner vor, vorwiegend Jugendliche anderer ethnischer Zugehörigkeit. Man tut das insbesondere dann, wenn es Cliquen mit nationalistischem oder rechtsradikalem Einschlag sind. In Situationen, wo Alkohol, Gruppenzwänge und aufschaukelnde Rituale zusammenkommen, führt das zu massiver Gewalt gegen andere, zum Beispiel gegen Ausländer.
Gibt es nicht auch wesentlich festere Zusammenhänge? Beispielsweise über gemeinsame Interessen oder eine ähnliche Ideologie?
Typisch ist, wie gesagt, die eher lose Struktur von Cliquen, wie wir sie aus amerikanischen Gangs, die da Vorbild sind, und entsprechender Gang-Forschung kennen. Man sollte die interne Struktur nicht überschätzen. Ich denke vor allem an Hooligans, wie sie gerade wegen der massiven Gewaltanwendung gegen den französischen Polizisten Nivel vor Gericht standen. Die beteiligten Täter waren im herkömmlichen Sinn keineswegs eine Gruppe, sie kannten sich kaum, sie sind zusammengekommen und gewalttätig geworden. Rechtsradikale, alle Forschungen stimmen da überein, sind auch relativ lose in Cliquen oder Netzwerke eingebunden. Allerdings, und das ist wichtig, durchaus mit Kontakten in den organisierten Rechtsextremismus hinein. Jugendliche allein entwickeln einen solchen Organisationsgrad eher selten. In meiner vergleichenden Untersuchung zwischen den frühen Nazis vor 1933 und Rechtsradikalen von 1980 bis 1994 hat sich als großer Unterschied herausgestellt, dass mit der NSDAP eine Organisation zur Verfügung stand, die die Gewalt kanalisierte, trainierte und ihr eine feste Struktur gab. Das ist, jedenfalls derzeit, nicht zu beobachten.
Deutschland hat im Kosovo an Kriegshandlungen teilgenommen und diesen Einsatz als notwendige Gewalt im konkreten Zusammenhang gerechtfertigt. Kann es sein, dass Jugendliche den Zusammenhang ignorieren und nur die Legitimität von Gewalt sehen?
Es gibt Untersuchungen zur Gewalt vor und nach kriegerischen Einschnitten, aber mit dem Kosovo haben sie nichts zu tun. Tatsächlich haben Jugendliche viel mehr Gelegenheiten, Gewalt anderer Art massiv wahrzunehmen. Wir wissen, wie Gewalt erlernt wird. Kinder und Jugendliche lernen sie am Modell. Wenn man ein Modell vorführt, in dem Gewalt legitimiert ist, an dem man sehen kann, wie man sie anwendet, hat das erkennbare Wirkung. Mir hat ein Polizist, der in einer 3. und 4. Klasse Verkehrsunterricht gibt, erzählt, die erste Frage der Schüler ist immer: Wieviele Leute haben Sie schon umgelegt? Da lebt die Vorstellung von der Legitimität der Gewalt, und Kinder können sie jeden Tag abrufen. Mir scheint, das hinterlässt deutlichere Effekte.
Aus der Umgebung des Amokschützen fällt auf: Eine Bilderbuchidylle, Haus, schöne Landschaft, scheinbar heile Welt. Kann die Diskrepanz zu realem Leben ein auslösendes, signifikantes Element solch eruptiver Gewalt sein?
Wir wissen, dass Selbstmorde gerade dann passieren, wenn der Rest der Welt sich idyllisch zusammentut. Zum Beispiel Weihnachten. Gefährdete Menschen empfinden die Diskrepanz zwischen den anderen, denen es gut geht, und sich selbst - allein gelassen, problembelastet - sehr stark. Welche Konflikte dem eigentlichen Ausbruch vorausgehen, bei Jugendlichen möglicherweise eine problematische Familiensituation, kann man nicht genau benennen, man kann sie nicht mehr befragen. Amokläufer sind in der Regel aber nicht diejenigen, die aus einer langjährigen Depression heraus Selbstmord begehen. Ansätze von Verfolgungswahn können zum Beispiel eine Rolle spielen. Es gibt Fälle, denen schizoide Vorstellungen vorausgingen, übersteigerte ideologische Orientierungen, die schließlich abgleiten. Es ist typisch für einen Amoklauf mit begrenzter Intensität - gemeint ist der, der auf Familienkonflikten beruht, Vater oder Mutter, in der Regel aber der Vater, löscht die ganze Familie aus -, dass er auf einem scheinbar unlösbaren Konflikt beruht. Da dieser Jugendliche seine Schwester mit umgebracht hat, könnte es sein, dass auch diese Komponente eine Rolle gespielt hat. Der Täter will einen unlösbaren Konflikt ein für alle mal beseitigen, einschließlich der eigenen Person.
Das Gespräch führte Regina General
Susanne Karstedt ist spezialisiert auf Jugendkriminalität an der Universität Bielefeld
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