Ihr, die Benachteiligten

Sozialreport der "Volkssolidarität" Auf dem Arbeitsmarkt und bei den Rentenerwartungen sind die 50- bis 65-jährigen Ostdeutschen die größten Verlierer

Erneut hat der vorrangig in den neuen Bundesländern tätige Sozialverband Volkssolidarität im Januar 2005 eine Studie vorgelegt, die sich mit der Generation der 50- bis 65-Jährigen beschäftigt. Mit den Untersuchungen beauftragt war das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg, das mit seinen Recherchen zu dem Fazit kommt: die betreffende Altergruppe wird nicht nur durch den derzeitigen Arbeitsmarkt ausgegrenzt, sie muss auch mit spürbar reduzierten Renten rechnen. Wir dokumentieren in komprimierter Form Grundaussagen des Reports.

Die Studie will ein Zeichen setzen gegen eine Politik, die "Generationensolidarität" fordert, tatsächlich aber - öffentlich und unverblümt -"Generationenaufrechnung" betreibt. Besonders prekär ist für die heute 50- bis 65-Jährigen in den neuen Bundesländern die Lage auf dem Arbeitsmarkt. So können von den 50- bis 60-Jährigen nur noch 41 Prozent auf ein Arbeitsverhältnis verweisen, von denen wiederum 21 Prozent nur Teilzeit arbeiten oder einer so genannten "geringfügigen Beschäftigung" nachgehen. Jeder Dritte aus dieser Altersgruppe befindet sich zum jetzigen Zeitpunkt bereits in Rente beziehungsweise Altersteilzeit - 27 Prozent sind arbeitslos oder befristet über arbeitsmarktpolitische Maßnahmen beschäftigt. Von den 60- bis 65-Jährigen haben nur noch 22 Prozent ein Beschäftigungsverhältnis.

Anfang 2005 steht in Ostdeutschland den 2,7 Millionen Bürgern der Altersgruppe zwischen 50 bis 65 ein Defizit von 830.000 Arbeitsplätzen gegenüber. Rechnet man die 375.000 "prekären" beziehungsweise befristeten Arbeitsverhältnisse hinzu, ergibt sich ein Defizit von 1,2 Millionen. Untersuchungen der Arbeitsagentur Nürnberg belegen überdies, dass in den neuen Ländern von 41 Prozent aller Betriebe keine über 50-Jährigen mehr beschäftigt werden. In den für Ostdeutschland typischen Kleinstbetrieben ist dieser Anteil mit 58 Prozent noch höher.

Wenn unter diesen Umständen dennoch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf über 65 Jahre hinaus verlangt wird, kann dies letzten Endes nur darauf zielen, Alterseinkommen vorsätzlich zu begrenzen. Derartige Forderungen könnten nur dann sinnvoll sein, wäre für jeden Älteren, der das will, wirklich die Möglichkeit gegeben, über das 65. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. Solange jedoch die Zahl der Arbeitsplätze in den neuen Ländern weiter sinkt, steigt unwillkürlich der Anteil jener, die durch den erzwungenen vorzeitigen Renteneintritt deutliche Einkommensminderungen hinnehmen müssen. Das betraf im Jahr 2003 bei Frauen etwa 70 Prozent aller Rentenneuzugänge, bei Männern waren es rund 60 Prozent - die vergleichbaren Quoten in den alten Bundesländer lagen bei 36 Prozent (Frauen) und 42 Prozent (Männer).

Mit den seit dem 1. Januar 2005 geltenden Neuregelungen des Arbeitslosengeldes II wird der Druck in Richtung einer "freiwilligen" vorzeitigen Berentung unter Hinnahme von "Einkommensverlusten auf Lebenszeit" weiter forciert. Dabei ist gleichfalls in Betracht zu ziehen, dass nur noch in 29 Prozent aller Haushalte dieser Altersgruppe beide Partner erwerbstätig sind.

Die Generation der 50- bis 65-Jährigen im Osten ist die am meisten von den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt betroffene Gruppe, obwohl sie bis in die Gegenwart hinein eine hohe berufliche, soziale und territoriale Mobilität vorweisen kann - aus den heute 50- bis 65-Jährigen in den neuen Ländern rekrutiert sich die Generation mit der höchsten Mobilität in der jüngeren deutschen Geschichte.

Im Kontrast dazu ist die Entwicklung ihrer Einkommen von Einbußen oder Stagnation geprägt. Das ist neben unzureichenden Erwerbsmöglichkeiten auch auf den Umstand zurückzuführen, dass im Vergleich zu den alten Bundesländern nach wie vor nicht gleicher Lohn für gleiche Leistung gezahlt wird und bezogen auf die Sozialleistungen zwei Rechtsgebiete existieren - man nehme nur die Unterschiede in der Höhe des Arbeitslosengeldes II wie auch beim aktuellen Rentenwert. Die laut Rentenbericht der Bundesregierung erst bis 2030 vorgesehene Angleichung des Rentenwertes bleibt eine eklatante Verletzung des Vereinigungsvertrages, der für die in dieser Studie untersuchte Generation eine nicht hinnehmbare Langzeitwirkung entfaltet.

Die niedrigeren Einkommen resultieren auch aus einer Wirtschaftsstruktur mit höheren Anteilen schlechter bezahlter Branchen und aus dem Fehlen einer einkommensstärkeren Oberschicht (zu wenig einheimische Unternehmer, keine einheimische Elite, die sich entweder selbst abqualifiziert hat oder abgewickelt wurde).

Es ist in diesem Kontext auch der Legende zu widersprechen, bei den über 50-Jährigen handele es sich um eine "Erbengeneration", der früher oder später riesige Vermögen zufließen würden. Die jüngste Geschichte im Osten Deutschlands ermöglichte in der Regel keine Akkumulation von Reichtum. Das durchschnittliche Vermögen (außer Grund und Boden sowie Wohneigentum) umfasste 2004 rund 17.000 Euro. Etwa 70 Prozent der 50- bis 60-Jährigen verfügen über Barvermögen von durchschnittlich 25.000 Euro pro Familie, nur acht Prozent aus dieser Altersgruppe über ein Bar- und Anlagevermögen von über 50.000 Euro. Lediglich 20 Prozent der Eltern dieser Generation verfügen über vererbbares Wohneigentum beziehungsweise vererbbaren Grundbesitz.

Die heute 50- bis 65-Jährigen haben die friedliche Revolution von 1989/90 in hohem Maße mitgetragen und gingen seinerzeit mehrheitlich von positiven Erwartungen aus. Inzwischen geben 65 Prozent an, dass sich ihre Erwartungen nicht beziehungsweise nicht im vorgestellten Maße erfüllt haben. Es kann kaum verwundern, dass sich diese Altersgruppe mit den neuen Bundesländern stärker verbunden fühlt als mit der Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Das ist keine Nostalgie, sondern Reflex fehlender Integrationschancen und eines diskriminierenden Vollzugs der Vereinigung.


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