Als sie vor rund zwei Jahren für ihre Landesparteitage gewählt wurden, ahnten sie nicht, dass sie an einem sonnigen März-Sonntag zu diesem überregionalen Parteitag der SPD-Ost-Verbände fahren würden. Es ist die erste Veranstaltung dieser Art. Sie wurden gerufen, um einen Leitantrag unter dem Titel "Richtung Zukunft - Unsere Politik für Ostdeutschland" abzusegnen. "Die Richtung stimmt", wiederholen auch die Redner gern. Und der Saal applaudiert. Alle Anwesenden scheinen von dem Gedanken durchdrungen: Der Wahlkampf, den heute unsere Partei mit uns eröffnet, wird nicht leicht. Wir wollen die uns zugeteilte Rolle darin klaglos übernehmen. Wir sagen von nun an Ja zu Schröder, zur Regierung, zu ihrer Wirtschaftspolitik in den neuen Bundeslän
8;ndern. Dinge, die über diesen Horizont hinausgehen, lasst uns bis zum September beschweigen. Wir halten zusammen. Die Unionsparteien spalten die Nation, während die SPD sie nach dem eigenen Verständnis eine. Die PDS bleibt ungenannt, für diesen Parteitag existiert sie nicht. Auch kein Wort fällt über den eigenen Regierungspartner Bündnis 90/Die Grünen. Stoiber, der Herausforderer, wirkt hier nicht wie ein Angstgegner, eher wie eine Beleidigung: dass er sich überhaupt einbildet, im Osten einen Blumenstrauß zu gewinnen. Die Delegierten fürchten weniger eine Wendung zu Stoiber, als die Wahlverweigerung. Das Wissen um die seltsamen Umwege von Wählergunst und -ungunst beunruhigt. Der Schock vom März 1990 ist unvergessen. Bei jenen ersten Wahlen, die in der noch existierenden DDR nach BRD-Muster abliefen, rechneten alle mit einem sozialdemokratischen Wahltriumph. Allerdings gab im Vorfeld die Bevölkerung bei Umfragen kaum Auskünfte über ihre Absichten. Und am Wahlabend stand plötzlich Kohl als der größte Stimmenfänger da. Reinhard Höppner hat den Begriff "Stimmungsdemokratie" geprägt für die Art, wie im Osten abgestimmt wird: man probiert aus, wechselt und wählt auch spontan aus einer Trotzhaltung. Die SPD stellt nun drei Ministerpräsidenten in den neuen Bundesländern, mit Berlin vier, drei von ihnen mit PDS-Unterstützung, es gibt viele SPD-Bürgermeister, doch irgend etwas gelingt der SPD nicht wirklich. Sie ist nicht "die Stimme des Ostens", obwohl sie das für sich reklamieren möchte. Die Ost-West-Kluft war auch innerhalb der SPD bemerkbar. Die Mehrheit aus dem Westen drängte die Genossinnen und Genossen aus dem Osten zu oft in den Hintergrund, um sie jetzt in strahlendem Glanz vorzeigen zu können. Und für die DDR-Vergangenheit fehlt es völlig an einer Sprache. Sie wird hier ausgespart, ist wie ein Loch in der Geschichte, an die die SPD eigentlich gern anknüpfen würde. Die Konferenzen aus Gründungszeiten in Gotha, Erfurt und anderen Städten im Osten werden genannt. Die DDR taucht höchstens als das zu Überwindende auf, in Sätzen, die nicht mehr opportun sind. Die Löschung von Biographie und Erfahrung kommt nicht an, wie inzwischen offenbar wurde. Als Gerhard Schröder in seiner Rede zum Namen Thierse kommt, um eine lange Lobes-Litanei für die prominenteren Ostpolitiker abzuschließen, zischeln einige Delegierte: das fällt ihm nicht leicht. Und tatsächlich misslingt es ihm fast, er sagt: Thierse muss ich nicht loben, das tut er selbst. Der sitzt regungslos und schlägt die Augen nieder, was auf dem großen Projektionsschirm deutlich zu sehen ist. Als dann der Applaus für ihn nicht enden will, steht er doch winkend auf. "Die Hälfte des Weges ist zurückgelegt", behauptet ein wenig rätselhaft der 15-seitige Leitantrag. Aber die Kommunen sind in finanzieller Bedrängnis, die Arbeitslosigkeit und Abwanderung, besonders von jungen und von gut ausgebildeten Menschen, ist das größte Problem, die "Herausforderung". Viele Städte haben bis zu 20 Prozent ihrer Einwohner verloren. Städtebau findet dort unter der Vorgabe der abnehmenden Bevölkerung statt. Schröder verspricht nun den Bau der A14 von Magdeburg nach Schwerin und erhält brausenden Beifall. Auch den weiteren Ausbau einiger Teilstrecken sowie der ICE-Strecke Nürnberg-Berlin kündigt er an. Es geht um eine "moderne, leistungsfähige Infrastruktur" als Schritt eins, der die Ansiedlung von "innovativen Forschungseinrichtungen" befördern und die "Attraktivität" der Region erhöhen soll. Konkrete, offenbar finanziell abgesicherte Vorhaben und allgemeine Vorstellungen vermischen sich unübersichtlich. Was wird realisiert werden, was wird nur gefordert? So wird die Angleichung der Löhne in Ost und West angestrebt, nach einem Plan von Höppner bis 2007. Schröder betont, dass vor allem Osthochschulen die gleiche Besoldung bieten müssen wie im Westen, um die Abwerbung von jungen Wissenschaftlern zu stoppen. Die weitere Entwicklung wird von "regionalen Wachstumszentren" aus gedacht. Dafür können auch EU-Gelder nutzbar gemacht werden. Die Kohlsche Förderpolitik "nach dem Gießkannenprinzip" müsse aufhören. Jetzt werde es um gezielte Förderung gehen, natürlich auch des Mittelstandes, wo "das Herz der Wirtschaft schlägt", wie es im Leitantrag heißt. Für die Ausbildung von Jugendlichen werde man um ein so genanntes Jump-Plus-Programm kämpfen: Förderung der Ausbildung und anschließend eine "Beschäftigungsbrücke Ost" mit Teilzeitarbeit und Lohnkostenzuschüssen. Und die vielen Kinderkrippen und -gärten werde man weiterhin pflegen. Sie als DDR-Erbe zu benennen, bringt hier niemand über die Lippen. Im Vorraum des Konferenzsaals im Magdeburger Hotel Maritim ertönt Weihnachtsmusik. Eine Gruppe hat "Ihr Kinderlein kommet" auf Stoiber umgedichtet. Der Text bleibt trotz ständiger Wiederholung unverständlich. Da taucht Schilys Vierkantschädel in der Menge der ankommenden Delegierten auf. Singt er etwa auch? Tatsächlich, er und Struck singen mit, ohne die Miene zu verziehen. Die Kameras eilen herbei. Zu spät. Drinnen werden die Gäste begrüßt, unter ihnen die vier ostdeutschen Landeschefs: neben Stolpe, Höppner, Ringstorff wird auch Wowereit dazu gezählt. Greta Wehner erhält den größten Applaus. Auch für zwei Bandmitglieder der Puhdys klatscht der Saal. Der Versammlungsleiter stellt sie familiär mit ihren Spitznamen vor: Maschine und Krater. In den hinteren Reihen des Saals wird richtig gestellt, nicht Krater, sondern Quaste. Jemand lacht laut auf: "Da haste die Ostkompetenz." Wolfgang Thierse überrascht mit dem Satz: "Nach zwölf Jahren Einheit ist vom Westen nicht mehr so viel zu lernen." Manfred Stolpe beschwört das Bild von Regine Hildebrandt. Am 22. September müsse die SPD vorn sein: "Das erwartet Regine Hildebrandt von euch." Müntefering hält die Rede mit dem größten Tempo, fast ein Trommelsolo: Stoiber habe sich 1993 in den vollen Schmalztopf gesetzt. Aber die Strukturprobleme Bayerns habe er nicht gelöst, darum tauge das Modell Bayern nicht für den Osten. Die SPD-Leistungen müsse man selbst bekannt machen: "Mundfunk schlägt Rundfunk." Die Korruption in Köln werde die Partei rücksichtslos und sauber klären. Hans Eichel erklärt wie ein strenger, aber gerechter Familienvater sein Sparsamkeitsprinzip. Er sei für eine "Kulturrevolution: für einen Staat, der nicht von Schulden lebt." Die Konferenz nimmt ohne Pause ihren Lauf. Im Foyer werden Würstchen angeboten. Die Politiker im Podium malmen mit den Kinnladen, um Gähnanfälle niederzukämpfen. Sie halten durch, denn mit diesem Ost-Parteitag gelingt es, eine ganze Maschinerie für den bevorstehenden Wahlkampf anzuwerfen. Hierher kommen die Medien, um Schröder zu hören, vor dem Hintergrund des Forums, das ihn bestätigt und die Nachricht aufwertet. 350 Medienkarten wurden ausgegeben. Von hier aus tragen aber auch die Delegierten die Parolen nach Hause, um die Mitgliedschaft in Fahrt zu bringen, auf deren Engagement in Wahlzeiten immer wieder gerechnet wird. Alle Seiten spekulieren auf diese Faktoren und ergänzen sich so. Alles ist vorgezeichnet, Unerwartetes ausgeschlossen. Erregung allein bei der Jusovorsitzenden von Brandenburg, Anja Spiegel, die nicht zu Wort kommt, weil die Promis die Redezeit überziehen. Sätze zum Nachdenken kommen nur von Wolfgang Thierse. Einige der Probleme, die die Ostdeutschen zu lösen hätten, würden "dem Westen erst noch bevorstehen. Was wir hier bewältigen, sind beileibe nicht mehr nur Altlasten." Es handle sich um Zukunftsfragen. Er wünscht eine neue Philosophie für Ostdeutschland. Eine Kopie des Westens könne es nicht sein. Als ein politisches Leitbild schlägt er vor: "Europäische Verbindungsregion". Jemand echot ironisch: Durchgangsregion. Thierse möchte Diskussion und fordert die Anwesenden auf, "die Chance, die dieser Parteitag bietet, nicht mit einer bloßen Aufrechnung von Licht und Schatten verstreichen zu lassen". Doch hier debattiert niemand. Die Delegierten haben längst den Sinn der Inszenierung begriffen und akzeptieren ihre Funktion darin. Die Wirklichkeit entschwindet aus dem Saal. Es bleibt das Programm.
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