Irgendwie ist er fast schon in Vergessenheit geraten, Julian Assange, der Wikileaks-Gründer. Seit mehr als einem halben Jahr sitzt er in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis, nachdem er sich jahrelang in der ecuadorianischen Botschaft verschanzt hatte. Und jederzeit könnte ihm eine Auslieferung in die USA drohen. Jetzt setzt sich ein spektakulärer Aufruf für seine Freilassung ein. Disclaimer: Auch der Autor dieser Zeilen hat den Aufruf unterzeichnet. Und: ja, ich habe eine oder zwei Sekunden nachgedacht. Und dann nicht gezögert. Von Günter Wallraff über Herta Däubler-Gmelin bis zu Richard David Precht reicht die Liste der Unterzeichner, von Daniel Kehlmann bis Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Aber warum ist es davor so still geworden um ihn? Weil sich schon auch ein bisschen der so ungefähre wie verbreitete Verdacht durchgesetzt hat, dass an dem Kerl etwas nicht stimmen würde. In Schweden hatte er ein Vergewaltigungsverfahren am Hals – zwar hatte er einvernehmlichen Sex, aber er habe dabei das Kondom absichtlich zerstört, so der Vorwurf. Geklärt wurde das nie. Und im US-Wahlkampf hat er mitgeholfen, Hillary Clinton zu beschädigen und Donald Trump ins Weiße Haus zu bringen. So hat es jedenfalls stark den Anschein.
Politisch passt er sowieso nicht leicht in eine Kategorie, er ist so bisschen links und bisschen rechts, so wie sich das gelegentlich bei Leuten findet, die am ehesten als „Libertarians“ bezeichnet werden können, eine politische Tradition, die es primär im angloamerikanischen Raum gibt. Hinzu kommt: Nach Jahren der Isolation in der Botschaft war er natürlich auch etwas wunderlich geworden. Wie auch nicht: Wer bekäme da nicht einen Koller oder sogar Verfolgungswahn? Einfacher Typ ist er vielleicht auch nicht gerade, was weiß man ... All das zusammen hat dazu geführt, dass viele die Meinung hatten: Ja, die Verfolgung, der er ausgesetzt ist, die stinkt erbärmlich zum Himmel, aber er ist auch ein schwieriges Objekt der Solidarisierung.
Doch genau das ist die Falle, in die uns die herrschenden Mächte zu drängen versuchen. Dass wir uns nur mit denen solidarisieren, die genauso denken und handeln wie wir und unsere drei besten Freunde. Dass wir uns spalten lassen, selbst bei so Essenziellem wie den Menschenrechten.
Dabei müsste uns spätestens der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, aufrütteln. Die Vergewaltigungsanklage in Schweden war fabriziert, und zwar gegen den Willen der betroffenen Frauen, sagt er nach eingehender Würdigung der Unterlagen in einem Interview mit republik.ch. An einer Aussage Assanges und einer Klärung des tatsächlichen Sachverhaltes war den Behörden nie gelegen. Die britischen Gerichte wiederum drängten die Schweden, nur ja nicht die Ermittlungen zu den Akten zu legen. Und dass die USA ihn als „Spion“ für ewig hinter Gitter bringen wollen, daran besteht sowieso kein Zweifel. Und wofür? Weil die Rechercheplattform Wikileaks Kriegsverbrechen dokumentierte, die ihr von Whistleblowern zugespielt wurden.
Das ist aber kein Verbrechen, sondern die Pflicht von Medienleuten. Und in jedem halbwegs zivilisierten Land von der Pressefreiheit gedeckt. Was in diesem Fall von Beginn an an Rechtsbrüchen und Seltsamkeiten passiert ist, ist einfach unglaublich, so Melzer. So gehe es in dem zweiten der beiden angeblichen „Vergewaltigungsfälle“ nicht um ein gerissenes Kondom. Es geht um eine Frau, die laut Melzers Rechercheergebnissen einvernehmlichen und ungeschützten Sex mit Assange hatte, aber danach Angst vor einer HIV-Infektion. Sie geht ins Krankenhaus. Dort sagt man ihr, sie solle sich auch an die Polizei wenden, denn die könne Assange zu einem HIV-Test zwingen. Die Polizei erklärt ihr nun, sie werde gegen Assange wegen Vergewaltigung ermitteln. Die Frau will das gar nicht, da sie nicht vergewaltigt wurde. Die Polizei sagt, Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt und daher sei völlig irrelevant, wie sie das Geschehen interpretiere. Komischerweise passiert das zur gleichen Zeit, als Assange Stockholm Richtung Berlin verlässt. Komischerweise verschwindet sein Laptop im Flugzeug. Als Assange anbietet, in Stockholm auszusagen, sofern man ihm zusichert, nicht in die USA ausgeliefert zu werden, lehnt Schweden das ab. Auch ganz zufälligerweise wird in den USA in diesen Wochen das Spionageverfahren eröffnet – vorerst noch im Geheimen. Etwas gar viele Zufälle. Melzers Fazit: „Ich sage nicht, Julian Assange sei ein Engel. Oder ein Held. Aber das muss er auch nicht sein. Denn wir sprechen von Menschenrechten und nicht von Engels- oder Heldenrechten.“ Während all dem überbieten sich amerikanische Radiosender und TV-Talking-Heads mit der Hetze gegen Assange. Mal wird gefordert, man möge ihn behandeln wie Osama bin Laden, eine andere Talk-Show-Figur trommelt, man sollte ihn „einfach aufknüpfen“. Eine Weltmacht führt Krieg gegen einen, der nicht viel mehr als einen Laptop und ein paar Server zur Verfügung hat. Ziemlich asymmetrische Sache.
Für Demokratinnen und Demokraten, für Verteidiger von Pluralismus und Transparenz darf es da also kein Wackeln geben. Julian Assange muss freigelassen werden. Wer Kriegs- und Staatsverbrechen aufdeckt und dann in die Mühle der Strafverfolgung gerät, den dürfen wir nicht im Regen stehen lassen. Falsches „Einerseits und Andererseits“ ist da völlig unangebracht.
Kommentare 19
Ja, sicher: "Für Demokratinnen und Demokraten, für Verteidiger von Pluralismus und Transparenz darf es da also kein Wackeln geben."
Aber was ist, wenn da ein phantom verteidigt werden soll, dass es in der realen welt der globalisierten macht der mächtigen gar nicht gibt? Woher nimmt der autor die sicherheit, dass das geforderte jemals real existiert hat?
Eigentlich deutet alles genau auf das gegenteil - die medienmogule dieser welt haben den "massen" souffliert, dass es demokratie und pluralismus (im gegensatz zu diktatur und unterdrückung im staatssozialismus) im monopolkapitalismus gebe und dass sie selbst (die medien) die wächter und schützer dieser "güter" seien.
In wirklichkeit ist alles nur eine gigantische sinnestäuschung, wenn es ums geld, ums kapital oder um die politische macht geht, geht es weder demokratisch noch pluralistisch zu. Das ist die wahrheit, die niemand wissen darf, und wenn sie dennoch ausgesprochen wird, ist die aussprecher*in entweder verrückt oder kriminell und gehört folglich so oder so weggesperrt in eine anstalt bzw. ein gefängnis!
vielen dank für diesen artikel und großen respekt für das offene eingeständnis, in eine propagandafalle getappt zu sein. (oder, für den freitag insgesamt: teil dieser propagandafalle gewesen zu sein.)
Das Schweigen der Westlichen (Un)Wertegemeinschaft rächt sich jetzt in mangelnder Aufgeklärtheit über die sich lange hingezogene Affäre.
Unbedingt lesenswert, das Interview mit Niels Melzer. Die Chronik einer sozialen Hinrichtung vor und während der juristischen Hinrichtung durch Folter.
kannte ich, dennoch vielen dank!
Gut, dass S. Gabriel diesen Appell mit initiiert hat.
Besser wäre es, er könnte seinen Nachfolger im Amt des Außenministers dazu bringen, in der Sache zu intervenieren.
Am besten, allerdings, er wäre in seiner Zeit als SPD-Vorsitzender, Außenminister und Vizekanzler selber tätig geworden. Merkwürdig, dass bestimmten Leuten immer erst ein Licht aufgeht, wenn sie nicht mehr in Amt und Würden sind und nur noch wohlfeil appellieren können.
Wer die Bundespressekonferenzen der letzten Monate mitverfolgt hat, der konnte mitbekommen, dass man im Auswärtigen Amt nichts weiß und der britischen Justiz uneingeschränkt darin vertraut, ein rechtsstaatliches Verfahren durchzuführen...
Drei Affen. Zum Bleistift der Hinterlader des Boulevards, (vormals nach Worten des Gründers Rudolf Augstein: Sturmgeschütz der Demokratie) Der Spiegel, hat 8 Ergebnisse für „nils melzer“, erwähnt den Sonderberichterstatter erstmalig in diesem Jahr verschämt versteckt unter der Überschrift
"Huawei ohne Google, Was für eine Verschwendung ... Das und mehr im Newsletter"
ganz unten: "Fremdlinks: Drei Tipps aus anderen Medien."
Das liegt an den 'Sachzwängen'. Freies denken ist nur in der Freizeit erlaubt. Und die gibt es erst nach der politischen Karriere...
Medienschaffende sollten sich eigentlich ihrer Bedeutung für die Demokratie als "4. Gewalt" bewusst sein. Was es für die Entwicklung der Demokratie bedeutet, wenn diese "4. Gewalt" ausfällt, das kann man mittlerweile in der ganzen Welt mitverfolgen. Trump, Assange und Thüringen hängen insofern unmittelbar zusammen. Vor 20 Jahren habe ich orakelt, dass die Entwicklung bis 2030 spannend wird. Versprochen, ich orakle nie wieder!
Im Nachbarblog hatte ich schon auf die Rede von Melzer vor dem Bundestag am 27.11.2019 hingewiesen, in der er explizit auf seine Erfahrungen mit dem Auswärtigen Amt zu sprechen kommt.
"Staatenverantwortlichkeit für die Folterung von Julian Assange"
Darin sagt er: "Man hat mir gesagt, man habe meine Berichte zum Fall Assange nach wie vor nicht gelesen und habe auch keine Zeit dazu. Ich habe dem Auswärtigen Amt deshalb ans Herz gelegt, man möge doch meine Berichte lesen, bevor man sich mit mir darüber unterhalten wolle. Ich hoffe, dass dies nun ernstgenommen wird und auch wirklich stattfindet, denn das ist ja gerade der Zweck meiner Berichte, dass sie eben gelesen werden."
Seinen Artikel "Die Demaskierung der Folterung von Julian Assange" (deutsche Übersetzung auf den NDS) hat er "dem The Guardian, der The Times, der Financial Times, dem Sydney Morning Herald, dem Australian, der Canberra Times, dem Telegraph, der New York Times, der Washington Post, der Thomson Reuters Foundation und Newsweek zur Veröffentlichung angeboten. Ohne jeden Erfolg."
Die 5. Gewalt finanziert mit ihren Anzeigenaufträgen das Gehalt der "schaffe-schaffe-irgendwas-mit-Medien-Macher", die dann den Raum zwischen den Anzeigen so füllen dürfen, das es die Fünft-Gewaltigen nicht verstimmt. Beim jetzigen Boulevard-Spiegel passt Aufklärung über den schändlichen Umgang mit Assange anscheinend nicht mehr zur (Haupt)Stromlinie.
Vom Nebensächlichen zum Eigentlichen:
Snowden, Mannings, Assange und andere nahmen sich eine Freiheit, die keine Regierung ihnen zugestehen will. Nur der große Freund in Gottes eigenem Land darf das Motto seines Geheimdienstes “And ye shall know the truth, and the truth shall make you free" für sich in Anspruch nehmen und die "Wahrheit", gleichgültig wie erlangt, wird nur ungern und dann gefiltert weitergegeben. Das galt auch unter Obama. Dass Regierungen der "freien Welt" nach Häppchen dieser Wahrheit gieren, und sich in der Ablehnung von Whistleblowern in ihrem Bereich einig sind, lässt sie ertauben, erblinden und verstummen. Da muss der große Bruder nicht einmal mahnend den Zeigefinger vor die Lippen legen.
Ja, die Obrigkeitshörigkeit der Systemmedien ist erschreckend... die Artikel kannte ich bereits. Trotzdem vielen Dank.
Eine düstere, aber leider die Realität widerspiegelnde Zustandsbeschreibung. Und die Snowdens, Mannings, Assanges muss es geben, weil die Medien sich ihrer Verantwortung verweigern. Bitter.
https://www.youtube.com/watch?v=fdnbKuRcWhU
Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein begangenes Verbrechen behandelt wird.....
Wir sollten nicht vergessen, S. Gabriel nun der Chef der "Atlantikbrücke" ist. Nebenbei: er ist für seine Standhaftigkeit ja bekannt: Zigzagsiggi
Wo bleibt denn das Ehepaar Domscheid-Berg ?
Absolut d’accord mit dem Artikelinhalt – es gibt wohl weltweit keinen Fall, bei dem Regierende derart koordiniert getrickst und die jeweiligen Landesgesetze manipuliert haben wie den von Julian Assange. Die Absicht – ein Exempel zu statuieren und das Öffentlichmachen von kriminieller Regierungsmachenschaften künftig stark zu erschweren – ist derart fadenscheinig, dass ein Leugnen sie nur noch haltloser und lächerlicher machen würde.
Was bleibt? Natürlich unbedingte Solidarität. Die Einsicht, dass ebensolche weder an unbedingte Unterstützung sämtlicher Ziele und Wege noch an Sympathie mit der betreffenden Person geknüpft ist, muss wieder Allgemeingut werden – sonst haben uns die Herrschenden schnell da, wo sie uns haben wollen – Solidarität allenfalls noch im engsten Familienkreis.
Ein Anliegen, dem die Herrschenden durchaus großzügig Rechnung tragen: staatlicherseits gestattete Familienbesuche am Tag der Hinrichtung sind glaube ich in allen Staaten allgemeiner Usus.
Die Konsequenzen nach dem NSA Skandal waren ein Witz.
BND zapft widerrechtlich Provider an Knoten an
http://www.heise.de/newsticker/meldung/BND-hat-zweiten-Provider-neben-der-Telekom-hierzulande-angezapft-2481254.html
Bericht über Kooperation mit Behörden: Vodafone gibt mehreren Staaten direkten Zugriff auf seine Netze
https://netzpolitik.org/2014/bericht-ueber-kooperation-mit-behoerden-vodafone-gibt-mehreren-staaten-direkten-zugriff-auf-seine-netze/
Vodafone-Tochter und GCHQ hörten Unterseekabel ab
http://www.gulli.com/news/25181-ozapft-is-vodafone-tochter-und-gchq-hoerten-unterseekabel-ab-2014-11-21
NSA hat Zugang zu beinahe allen Mobilfunknetzwerken weltweit, um Daten abzugreifen und Informationen über jeden und alle zu sammeln!
http://www.golem.de/news/snowden-dokumente-wie-die-nsa-den-mobilfunk-infiltriert-1412-110973.html
BND und CIA haben gemeinsam Provider an Knotenpunkten agezapft
http://www.heise.de/newsticker/meldung/Bericht-BND-und-CIA-haben-gemeinsam-Provider-in-Deutschland-angezapft-2489463.html
BND hilft seit vielen Jahren der NSA Internetknotenpunkte anzuzapfen Damit ist der Beweis auch hier wieder erbracht. Deutschland ist ein Verwaltungsgebiet der USA
http://www.heise.de/newsticker/meldung/NSA-Skandal-BND-leitete-Daten-eines-deutschen-Internetknotens-in-die-USA-2238481.html
http://www.heise.de/newsticker/meldung/NSA-Skandal-Deutschland-zapft-angeblich-fuer-NSA-Glasfaserkabel-an-2235190.html
Über 200 US-Firmen bekamen die Genehmigung von der BundesregierungDeutschland ausszuspähen und Wirtschaftsspionage zu betreiben, natürlich unter dem Vorwand von Terrorismusbekämpfung
http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=jwEfz5ulKw0
NSA überwacht den internationalen Zahlungsverkehr
http://www.heise.de/newsticker/meldung/NSA-ueberwacht-internationalen-Zahlungsverkehr-1956710.html
BND hilft immer wieder sehr gerne den Amis wenn es um die Massenüberwachung und Abzweigung von Internetknotenpunkten sowie Datensammeln in Deutschland geht. Es stört keinen einzigen Abgeordneten im Bundestag
http://www.heise.de/newsticker/meldung/NSA-Skandal-BND-greift-taeglich-220-Millionen-Verbindungsdaten-ab-2533630.html
"Abhören in der EU jetzt grenzenlosAntidemokraten in Brüssel erlassen neue Anordnungen von Hausdurchsuchungen, Spitzeleinsätzen, Telekommunikationsüberwachung, Trojanern und zur Aufhebung des Bankgeheimnisses sind nun unter allen EU-Mitgliedstaaten möglich
http://www.heise.de/tp/artikel/41/41305/1.html