Mike Emmons war einst Programmierer in Florida, angestellt bei der Siemens-Netzwerksparte ICN. Vor etwa einem Jahr verlor er seinen Job. Die Abteilung, in der er tätig war, wurde "outgesourct" an die indische Tata Consultancy. Damit das "Outsourcing" nach Indien auch funktionierte, durfte Mike Emmons zusammen mit seinen Kollegen die indischen Entwickler in den USA noch einarbeiten. Siemens hatte erfolgreich sogenannte L-1B-Visa beantragt, obwohl sie nur für konzerninterne Versetzungen von Spezialisten vorgesehen sind, die firmeninterne Produkte und Projekte genau kennen. Emmons und seine Kollegen wandten sich mit diesem Fall an die Behörden und an ihre Abgeordneten. Es stellte sich heraus, dass die lokalen Kongressabgeordneten trotz gegenteiliger Rhetorik in wichtigen Abstim
Ihr seid einfach zu teuer
Eine neue Welle der Globalisierung Konzerne verlagern qualifizierte Jobs in Niedriglohn-Länder wie Indien
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wichtigen Abstimmungen immer für die Interessen der HighTech-Konzerne stimmten - und dass sie Wahlkampfspenden von Siemens bekamen. Inzwischen ist aus diesen Aktivitäten eine politische Kampagne geworden. Dabei geht es um den Missbrauch von US-Visabestimmungen, vor allem aber um die Verlagerung von qualifizierten Arbeitsplätzen in Niedriglohn-Länder. In den vergangenen Jahrzehnten haben Unternehmen vor allem einfache Tätigkeiten und lohnintensive Fertigungen verlagert. Textilindustrie, Schuhproduktion, einfache Montagetätigkeiten oder die Fertigung von Kabelbäumen für die Autoelektrik - das sind die bekannten Beispiele. Mittlerweile rollt die nächste Welle der Globalisierung der Arbeitsmärkte. Zunehmend werden auch Bürotätigkeiten und qualifizierte Dienstleistungen in Niedriglohnländer verlagert. So checken etwa Radiologen im indischen Mumbai (früher Bombay) die Ergebnisse der Computer-Tomografie von Patienten aus dem Massachusetts General Hospital in Boston/USA. Die CT-Bilder gehen digital nach Mumbai, und von dort werden die Arztberichte wieder nach Boston übermittelt. Die New Yorker Strafmandate für Falschparker werden in Ghana sortiert. Die Daten von arbeitslosen Wohlfahrtsempfängen im US-Bundesstaat New Jersey wurden in Indien erfasst, bis ein öffentlicher Aufschrei in den USA den Unsinn stoppte. Der Dienstleistungssektor in den USA wird nach einer Studie von Forrester Research bis zum Jahre 2015 etwa 3,3 Millionen Arbeitsplätze verlieren. Betroffen sind nicht nur einfache Tätigkeiten in Call Centern, sondern auch anspruchsvolle Aufgaben im Einkauf, bei der Aktienanalyse, der Bearbeitung von Versicherungs-Schadensmeldungen oder in der Buchhaltung. Bis 2005 rechnet die Beratungsfirma Gartner für die USA mit einem Verlust von zehn Prozent der Arbeitsplätze bei den Produzenten von Informationstechnik (IT) und fünf Prozent bei den IT-Anwendern. Jeder vierte der 500 größten US-Konzerne verlagert gegenwärtig Jobs nach Übersee. Auf den Philippinen werden Reservierungen der Fluglinie Delta und Versicherungsfälle des US-Konzerns AIG betreut. PC-Weltmarktführer Dell unterhält ein Kundendienstzentrum für den US-Markt in Indien. Auch europäische Unternehmen wollen von diesen neuen Formen der Kostensenkung profitieren. Für die Finanzdienstleister des Kontinents erwartet Deloitte Consulting in den kommenden Jahren die Verlagerung von 700.000 IT-Arbeitsplätzen. Die Deutsche Bank will nach eigenen Angaben über 10.000 solcher Jobs "exportieren". Halbleiterhersteller Infineon verlagert gerade Teile der Buchhaltung nach Portugal und lässt Zentren für das Chip-Design in Indien und China aufbauen beziehungsweise aufstocken. Software-Monopolist SAP will die Entwicklung in Bangalore/Indien demnächst auf 2.000 Mitarbeiter erweitern. Im Sommer vergangenen Jahres ist eine Entscheidung des Siemens-Zentralvorstands bekannt geworden, dass die mit 30.000 MitarbeiterInnen bislang auf Deutschland konzentrierte Software-Entwicklung des Konzerns nicht mehr an "teuren Standorten" betrieben werden soll. Konzernweit werden zwei Siemens-Töchter die Verlagerung an "günstigere Standorte" steuern - die SISL mit Hauptsitz in Indien und die PSE mit Hauptsitz in Wien und Dependancen unter anderem in Bratislava und China. Schon jetzt entwickeln 500 Ingenieure in Temesvar/Rumänien für die Siemens-Tochter VDO Autoelektronik - zu zehn Prozent der Personalkosten ihrer deutschen Kollegen. Als die gesamte Informationstechnik Ende der neunziger Jahre einen spektakulären Boom durchlebte, konnten sowohl die Industrie als auch die IT-Branche selbst gar nicht genug Fachkräfte bekommen. Bis zu 200.000 IT-Spezialisten und Ingenieure fehlten angeblich im Jahr 2000 in Deutschland. In den Konzernen widmeten sich Recruiting-Abteilungen der Talentsuche an den Hochschulen. Beraterfirmen lockten mit Bewerberseminaren auf Kreuzfahrtschiffen. Wer als IBM-, Siemens- oder Infineon-Beschäftigter einen qualifizierten Bewerber anschleppte, der anschließend auch eingestellt wurde, konnte eine dicke Geldprämie kassieren. Angesteckt von der spekulativen Überhitzung im IT-Sektor, produzierte dann auch die deutsche Politik eine Greencard-Regelung nach US-Vorbild, die dafür sorgen sollte, dass qualifizierte Spezialisten nicht mehr knapp sind und dass die Gehälter nicht in den Himmel wachsen. Auch am IT-Arbeitsmarkt wollten schließlich die Käufer der Arbeitskraft die Preise bestimmen. Bereits während der Boomjahre wurden IT-Jobs in Niedriglohn-Länder verlagert, indische Dependancen der internationalen Konzerne existieren schon seit vielen Jahren. Aber spekulative Sonderkonjunkturen in der IT-, Medien- und Finanzbranche hatten in den Industrieländern zunächst jahrelang die Nachfrage nach Entwicklern und Ingenieuren erhöht. Deshalb war der globale Trend zur Verlagerung qualifizierter Tätigkeiten zunächst kaum fühlbar. Nachdem die IT-Blase geplatzt ist, weht nun seit einiger Zeit ein anderer Wind. Plötzlich tauchen Manager und Vorstände zum Beispiel bei Siemens-Betriebsversammlungen mit Tabellen auf, um zu demonstrieren, was Fachkräfte in Indien, Rumänien, China oder sonst wo kosten. Die Botschaft an die Beschäftigten ist eindeutig: Im globalen Vergleich seid Ihr zu teuer! Und so prüfen die Konzerne (meist hinter verschlossenen Türen), was noch in Deutschland oder in den USA oder einem anderen Hochlohn-Land gemacht werden muss und was nicht. Vor der Auslagerung werden die Arbeits- und Entwicklungsprozesse analysiert und zerlegt, damit die komplexe Steuerung der später weltweit verteilten Aufgaben funktioniert und nicht im Chaos endet. Kundenberatung und die Integration der Produkte bleiben gewöhnlich im Lande. Denn Projekte für den deutschen Anwender können schlecht von Indien aus betreut werden. Andere Arbeitsschritte dagegen, etwa die Entwicklung von einzelnen Modulen, werden dort vollzogen, wo die Arbeitskräfte billig sind. Jeder Job, der englischsprachige Märkte bedient, kann in Indien gemacht werden Auch im IT-Krisenjahr 2003 ist die indische Software- und IT-Industrie um knapp 30 Prozent gewachsen. Indiens Anteil am weltweiten Software- und Servicemarkt liegt aktuell bei etwa zwei Prozent und soll bis 2008 auf ein Mehrfaches steigen. Die indische IT-Industrie - das sind zunächst große indische Konzerne wie Wipro, Infosys oder Tata. Das sind aber auch die internationalen IT-Unternehmen wie IBM, Hewlett Packard, Oracle, Microsoft, EDS und Accenture, die eigene Entwicklungszentren vor allem um Bangalore aufgebaut haben. Das sind zudem Technologiekonzerne wie Siemens und General Electric. Der Siemens-Mobilfunkbereich ICM beispielsweise lässt in Bangalore mit 500 Beschäftigten GSM- und UMTS-Netzsoftware entwickeln. Zur indischen IT-Industrie zählen aber auch globale IT-Anwender wie die Finanzgruppen Citibank oder Deutsche Bank. Unter den so genannten "Offshore"-Ländern genießt Indien bislang eine Ausnahmestellung, vor allem wegen exzellenter Englisch-Kenntnisse der indischen Hochschulabsolventen und aufgrund des riesigen Potenzials gut ausgebildeter Informatiker. Jahr für Jahr kommen in Indien so viele frisch diplomierte Informatiker und Informatikerinnen auf den Arbeitsmarkt, wie es in Deutschland insgesamt Informatik-Studenten gibt. Den Zug nach Indien hat vor allem der US-Konzern General Electric (GE) vor mehr als zehn Jahren ins Rollen gebracht. Das Unternehmen hat inzwischen 22.000 Beschäftigte in Indien, getreu der vom ehemaligen GE-Vorstandschef Jack Welch aufgestellten 70-70-70-Regel: 70 Prozent aller Prozesse und Aufgaben "outsourcen", davon 70 Prozent ins Ausland verlagern, und von denen wiederum 70 Prozent nach Indien. Fast 12.000 GE-Beschäftigte in Indien arbeiten allein in Call Centern. "Jeder Job", so heißt es bei GE, "der englischsprachige Märkte bedient, kann in Indien gemacht werden." Selbst das Management der weltweit tätigen Medizintechnik-Sparte von GE ist dort zentralisiert. Ebenfalls in Indien lässt der Konzern seine globalen Strategien der Steuervermeidung und der Integration von Unternehmenskäufen entwerfen. Die Freude an den billigen Arbeitskräften ist allerdings nicht ungetrübt. Speziell in den Call Centern ist die Fluktuation mit jährlich 25 Prozent sehr hoch. Viele verlassen GE schon innerhalb der ersten drei Monate, nicht zuletzt aufgrund der ständigen Nachtschichten, die wegen der Zeitverschiebung anfallen. Außerdem haben die jungen indischen Hochschulabsolventen Schwierigkeiten mit der Kultur und der Mentalität der Amerikaner, mit der sie plötzlich am Telefon konfrontiert werden. Die Kosten der permanenten Anwerbung und Auslese neuer Arbeitskräfte und der Aufwand für die Einarbeitung betragen ein Vielfaches dessen, was in den USA anfallen würde. Hinzu kommt, dass auch die qualifizierten Kräfte in Indien längst nicht mehr die billigsten sind. Laut Nasscom, dem indischen IT-Branchenverband, verdient ein einheimischer Programmierer umgerechnet etwa 35 Dollar pro Stunde. Der Kostendruck lässt die europäischen und US-Unternehmen nach günstigen Alternativen suchen. Für den IT-Standort Indien sind Osteuropa sowie asiatische Niedriglohn-Länder wie Vietnam und insbesondere China zu Konkurrenten geworden. In Partnerschaft mit chinesischen Firmen gibt es bereits über 200 Joint-Ventures, die für internationale Konzerne wie Intel, Siemens oder Hewlett Packard Software und Produkte entwickeln. Hauptsorge der Multis war bis vor kurzem der Schutz ihres geistigen Eigentums in China, also ihrer Technologien und Patente. Chinas Beitritt zur WTO hat nun einige Sorgen vorerst ausgeräumt. Ungewiss bleibt allerdings, ob die beiden Nachteile Chinas - die Sprachbarriere und die im Vergleich zu Indien weniger qualifizierte Bildung - die Wanderung ins Reich der Mitte nicht doch bremsen werden. Angesichts der Kostendifferenz zwischen qualifizierten Entwicklern in Deutschland oder in den USA und ihren Kollegen in Indien, China oder Vietnam ist guter Rat teuer. Geradezu albern muten da die Zumutungen der Allparteien-Koalition zur Senkung der Lohn(neben-)kosten an. Denn bei den Operationen der Agenda 2010 geht es um wenige Prozentpunkte in den kommenden Jahren. Für die Unternehmen sind das nette Extraprofite, die sie gern einstreichen, während sie munter weiter Arbeitsplätze verlagern. Das dramatische Gefälle der Lohnkosten bleibt eben trotzdem bestehen. Ebenso wenig helfen betriebliche Bündnisse oder Zugeständnisse der Gewerkschaften, wie sie etwa zur Sicherung von Fertigungsstandorten und von Arbeitsplätzen in der Produktion immer wieder vereinbart werden. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Produktionsarbeiten und (qualifizierten) Büro- und Entwicklungsjobs. In der Fertigung machen Lohnkosten immer nur einen Teil der Herstellungskosten des Produkts aus, in der Chipindustrie sogar nur wenige Prozent. Deswegen werden nur ausgesprochen lohnintensive Produktionen in Niedriglohn-Länder verlagert oder die Fertigungen werden dort aufgebaut, wo die wichtigen Absatzmärkte zu finden sind. Ein Beispiel sind die deutschen Automobilfirmen in den USA. Bei der Software-Entwicklung dagegen bilden die Lohnkosten den weitaus größten Teil der Gesamtkosten. Und auch bei den "unproduktiven" Bürotätigkeiten, wie Sachbearbeitung und Abrechnung, sind die Lohnkosten der entscheidende Kostenblock. Gegen den globalen Trend auf die internationale Vernetzung der Gewerkschaften zu setzen - sofern sie überhaupt funktioniert und sofern es in den Niedriglohn-Ländern überhaupt Gewerkschaften gibt -, ist eine Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte. Dabei darf man den Gewerkschaften zum Beispiel in Indien unterstellen, dass sie an einer weiteren Verlagerung von Arbeitsplätzen aus den USA oder aus Deutschland interessiert sind. Offensichtlich sind politische Antworten gefragt, nicht nur im nationalen Maßstab. Denn wenn die Lohnvergleiche der Konzerne stimmen, sind mehr oder weniger alle industrialisierten Länder betroffen. Inzwischen liegen in fünf Bundesstaaten der Vereinigten Staaten - New Jersey, Connecticut, Maryland, Missouri und Washington - Gesetzentwürfe vor, nach denen entweder der Einsatz von ausländischen Beschäftigten bei öffentlichen Aufträgen untersagt sein soll oder die verlangen, dass sich ausländische Beschäftigte von Call Centern bei jedem Anruf identifizieren müssen. Der US-Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO fordert von der Regierung darüber hinaus, dass der Rechnungshof eine Untersuchung über die wirtschaftlichen Auswirkungen des "Offshoring" durchführt. Gegen diese Debatte und vor allem gegen die Gesetzentwürfe laufen die amerikanischen Unternehmen Sturm und beschwören die Vorzüge der Globalisierung. Weil aber mittlerweile viele Mitarbeiter - auch in den oberen Etagen - betroffen sind, gibt es manchmal noch Zeichen und Wunder: eine vertrauliche Ansprache des Personalchefs von IBM über die Vorteile der Auslagerung nach Indien und China stand wenige Tage später auf der Titelseite der New York Times und gab der Kampagne der US-Gewerkschaften neuen Schwung.
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