Noch vor drei Jahren war Armenien für mich nur der Name eines Landes, das ich - wie andere auch - nicht kannte. Doch dann lernte ich während eines Arbeitsaufenthalts in der Denkmalschmiede Höfgen/ Internationale Studios in der Nähe von Leipzig den armenischen Komponisten Wahram Babayan kennen. Mit ihm zugleich seine Musik und einen Hauch des Armenischen, einen Hauch des Landes, das als erstes das Christentum zur Staatsreligion erhob und seit dem Jahre 396 ein eigenes Alphabet besitzt, dem Lautklang der armenischen Sprache angepasst. Ein Kulturland, dessen Territorium sich über die Jahrhunderte ständig verkleinert hat - das einmal durch die Perser, dann wieder durch die Türken besetzt wurde. Und dann den Genozid von 1915-1921 hinnehmen musste - die Jahre,
die Jahre, in denen 1,5 Millionen Armenier durch die Türken vernichtet wurden. Franz Werfel schrieb darüber in seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh. Meine Neugier war geweckt.Ich wollte ein Porträt über Wahram Babayan schreiben, der mit fünf Jahren zu komponieren begann und dem einst Dmitri Schostakowitsch ein hohes Talent bescheinigt hatte. Babayan gehörte vor der "Revolution" von 1991 zur Avantgarde, war zeitweise verboten, lebte materiell aber gut. Nach der "Revolution", dem sogenannten "Erwachen", das mit der staatlichen Selbstständigkeit Armeniens endete, ist es schwierig geworden. Maximal 100 Dollar gibt es pro Kompositionsauftrag ...Doch wie sollte ich über Wahram Babayan schreiben können, ohne das Land zu kennen, in dem er lebt und arbeitet. So beschloss ich diese Reise. Und das nicht, ohne Werfels Roman endlich gelesen zu haben.Und wie ist es in Deutschland?In den Vierzig Tagen des Musa Dagh wird ein Apotheker beschrieben - klug, umsichtig, hoch angesehen. So hoch, dass man ihm Leben und Arbeit in Europa nur wünschen kann. Dort in Europa, wo die Möglichkeiten ganz andere sind, ganz andere zu sein scheinen, auch damals schon in den Jahren 1914/15, in denen der Roman spielt, oder auch 1932/33, als Franz Werfel sein Buch schreibt. "Was hätte in Europa aus dir werden können, Apotheker?" - Ich sitze im Flugzeug nach Jerewan, über den Wolken schwebend wie durch ein Niemandsland Wo hätte man nicht überall geboren werden können? Und was hätte dann aus dir werden sollen? Während das Flugzeug nach fünf Stunden zur Landung ansetzt, lese ich bei Werfel: "Hier saß die Feindin, die große Fremdheit selbst, das unüberwindlich Armenische ..." Dann diese Liebesgeschichte zwischen einer Französin und einem Armenier - ist es möglich, Armenien schon einmal erlebt, schon einmal einen Blick auf armenische Geschichte, auf armenisches Leben riskiert zu haben? Welchen Vorhang zerreißt der eigene Blick, wenn es gilt, in gänzlich fremde, grenzenlose Regionen vorzustoßen?Vom Flughafen werde ich von einem Freund mit dem Auto abgeholt. Es ist vier Uhr morgens. Die Straßen voller Schlaglöcher und ohne Beleuchtung. Nur die offnen Verkaufsstände links und rechts der Route sind schon beleuchtet. Wein und Kognak, Weintrauben, Tomaten, Melonen, Granatäpfel ... Alles, was das Land im Frühsommer zu bieten hat. Alles das, was dem Gast reichlich gegeben wird, als sei er hier im Paradies. Für drei Wochen bei einer armenischen Familie leben dürfen. "Das Hotel ist zu teuer. Das muss man nicht bezahlen. Du bist unser Gast."Und wie ist es in Deutschland?Die Augen sind groß und die Frage ist ernst. In einem kleinen Metallgestell glüht eine elektrische Heizspirale. Darauf steht ein Topf mit Dolmar: Weinblätterröllchen, gefüllt mit Reis und Lammfleisch. In der Ecke steht eine Gasflasche für eine andere Herdstelle. Während die Dolmar dünsten, wird mit einem Schöpftopf Wasser aus dem Bad geholt. Wasser zum Geschirrspülen. Jedes Zimmer steht voller Eimer und Schüsseln. Das Wasser läuft nur einmal am Tag. Und nur für eine Stunde. Wann genau, das weiß keiner.Aber der elektrische Strom ist wieder da. Ununterbrochen. 1989/90, mit dem "Erwachen" Armeniens, hatte man eine Abschaltung des Atomkraftwerkes erkämpft. Danach gab es täglich nur noch eine Stunde lang Strom. Nie wusste man wann. Die Kriminalität stieg an. Kam der Strom, wurde gewaschen, gebügelt, gebacken, geheizt und gekocht. Alles stand schon bereit. Erst im zweiten der beiden langen Winter nach 1990 gab es genug Kerzen und Petroleumkocher. Jetzt arbeitet das Atomkraftwerk wieder.Ich schaue vom Balkon. Über dem Ende der Straße kahle Berge. Bei der flirrenden Hitze und dem Abenddunst über der Stadt ist der wichtigste Berg Armeniens nicht zu sehen: Der Ararat. Heute liegt er auf dem Gebiet der Türkei."Und wie ist es in Deutschland?", wird hinter mir gefragt. Die Großmutter bekommt umgerechnet sechs Dollar Rente im Monat. Gut, dass der Sohn noch Arbeit hat. Das sind noch einmal etwa 30 Dollar dazu. Es gibt wenig Beschäftigungsmöglichkeiten. Selbst in der Hauptstadt. Und die Arbeit wird schlecht bezahlt.Sind die Menschen traurig hier?Am Abend durch das nächtliche Jerewan spazieren. Leben genießen. Überall Lichterketten, Springbrunnen, Grünanlagen mit Blumen. Überall Menschen. Friedliche, sanfte Nächte. Sich in eines der Freiluftcafés setzen und ein Wasser bestellen. Die Coca-Cola-Schirme bleiben trotz der Dunkelheit aufgespannt. Die junge Kellnerin kommt lange nicht. Als sie dann kommt, ist sie mürrisch. Sie nimmt die Bestellung lustlos auf, zieht davon. Am Nebentisch brüllt ein Mann. Drei andere Männer versuchen, ihn zu beruhigen. Der Mann ist nicht zu beruhigen und die anderen gehen."Sind die Menschen traurig hier?""Ja, das Leben ist jetzt so schwer - und es gibt keine Aussicht auf Änderung." Die Kellnerin kommt wieder und wird gefragt, warum sie so traurig sei. Der deutsche Gast müsse ja denken, hier in Armenien könne man nur traurig sein. Die junge Kellnerin beginnt, von sich zu erzählen. Dass sie vier verschiedene Sprachen spreche. Am Tag lerne sie und am Abend arbeite sie hier und verdiene Geld. Und traurig sei sie, weil ihr Chef immer so herumbrülle. Der Mann vom Nebentisch, das war also ihr Chef, der Besitzer des Restaurants. - "Und wie ist es in Deutschland?"Am nächsten Tag klingelt ein Junge an der Wohnungstür. Er sieht aus wie 15, behauptet aber, über 18 zu sein. Sein Vater arbeite in der Kognakfabrik. Sein Vater, seine Mutter und er selbst hätten Krebs. Der Vater werde bald sterben. Und er - der Junge - könne Kognak besorgen zum Werkspreis. Er nimmt eine Bestellung auf. Irgendwann wechselt das Geld den Besitzer. Der Junge verschwindet mit dem Geld in einem Hochhaus und kommt nicht wieder, wie versprochen. Das Geld ist das Eine, die Enttäuschung das Andere.Bist du ein Mensch?Der Zufall will es, dass man schon am nächsten Tag diesem Jungen wieder begegnet. Die Enttäuschung über seinen Betrug war zu groß, er wird festgehalten und nach Hause geführt, abgeführt. Den Vater rufen oder die Polizei? Der Junge bittet darum, die Polizei zu rufen. Der Vater wird angerufen, dazu ein Nachbar, der bei der Polizei arbeitet. Beide lassen auf sich warten. Die Zeit vergeht. Stunden vergehen. Der deutsche Gast liest inzwischen weiter Franz Werfel. Der Gastgeber spricht, er geht auf und ab, er schleicht wie verwundet: "Bist du ein Mensch? Du bist kein Mensch. Du bist ein Tier. Du hast keine Ehre. Es ist eine Schande für Armenien, dass es solche Menschen wie dich gibt. Der Mensch muss wissen, was er tut, auch wenn es ihm sehr schlecht geht. Das ist ein Gast aus Deutschland. Was soll er von uns denken? Kennst du Franz Werfel? Nein, natürlich kennst du ihn nicht. So einer wie du kennt solch einen Mann nicht."Später kommen die Eltern des Jungen. Sie holen ihn. Sie entschuldigen sich und begleichen die Schuld ihres Sohnes."Und wie ist es in ...?"Marina kennen lernen, die junge Frau, die am Konservatorium Klavier studiert, die Lehrerin werden und nach Deutschland gehen möchte. Dorthin, wo ihr Bruder schon lebt. Marina, die gern etwas aus sich und aus ihrem Leben machen möchte, die aber, wahrscheinlich, in Armenien bleiben wird, damit die Eltern nicht ohne beide Kinder sind. Über die Grenze gehen oder nicht, über die Grenze gehen und niemals zurückkehren? "Was hätte in Europa aus dir werden können, Apotheker?"Auch die berühmte Kirche kennen lernen, im Dorf Sarmosawan, einige Kilometer von Jerewan entfernt. Diese Kirche, in die jedes Jahr eine Gruppe junger Deutscher kommt, um sich in die Mitte des Bauwerkes zu stellen unter die geöffnete Kuppel, dort die Arme auszubreiten, die Hände geöffnet nach oben, den Kopf erhoben zum Licht. Junge Deutsche, die so ihre Verbindung zum Kosmos herzustellen versuchen. Das erzählen die Armenier und sie fragen sich, was die jungen Deutschen hier suchen könnten, was eigentlich."Du verstehst uns", sagen die Gastgeber, "du siehst uns, weil du auch aus dem Osten bist." Und als der deutsche Gast die Steinstufen des Hauses wieder abwärts steigt, drei Wochen später und mit einem eigenen Blick auf das Land, abwärts zum Auto hin, dem Auto zurück zum Flughafen, da schütten sie ihm mit dem Schöpftopf noch Wasser über die Stufen hinterher, das kostbare Wasser aus den Zimmern oben: "Das bringt dir Glück. Für die Reise und überhaupt."
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