Im Altersheim dreht sich der Blick aufs Leben

Schreiben Unsere Kolumnistin löst Blockaden am liebsten mit Gedichten und fragt sich, was wirklich schlimm ist
Ausgabe 21/2019
Schreiben. Eine der wenigen Tätigkeiten, bei der die Chance besteht, dass sie mit dem Alter besser wird
Schreiben. Eine der wenigen Tätigkeiten, bei der die Chance besteht, dass sie mit dem Alter besser wird

Foto: Imago Images/Blickwinkel

Die Damen, die mir jeden zweiten Montagvormittag gegenübersitzen, lassen sich nur so beschreiben, als Damen eben. Das hat nicht nur mit ihrem Alter zu tun. Das Alter spielt eine Rolle, auch wenn die Leute gerne sagen, dass es das nicht tut, und betonen, dass man stets so alt sei, wie man sich fühle. Die Damen hier im Seniorenheim sind ein Beweis für diese These. Die Damen hier – die Älteste ist 93 – fühlen sich höchstens körperlich etwas gebrechlich, die Finger zittern, wenn sie die Stifte nehmen (sie sind zum Schreiben hier), beim Hinsetzen schmerzt der Rücken ziemlich, oder es ist die Hüfte, die schmerzt.

Das scheint aber alles halb so wild. Es scheint auch, als sei nichts richtig schlimm für diese Damen, die in einer Seniorenresidenz leben und jeden zweiten Montagvormittag zu mir in die Schreibwerkstatt kommen: Stifte, die mit zitternden Händen gehalten werden und übers Papier fliegen.

Es gibt da dieses Gedicht von Gottfried Benn, es heißt Was schlimm ist. Schlimm ist, unter anderem, so Benn, „bei Hitze ein Bier sehn, das man nicht bezahlen kann“, oder kein Englisch können. Das Gedicht endet mit der Steigerung von schlimm. Am schlimmsten ist: „nicht im Sommer sterben, wenn alles hell ist und die Erde für den Spaten leicht.“ Es ist ein gutes Gedicht, auch deshalb, weil es jede(n) Leser*in erreicht. Es knüpft an das an, was wir Menschen wirklich gut können, das Schlechte im Leben sehen, obwohl es Benn darum vermutlich nicht ging.

Das Gedicht hat eine klare Struktur, weshalb ich es manchmal in Schreibwerkstätten zum Lösen von Schreibängsten verwende. Erst schmunzeln alle, dann schreiben sie auf, was schlimm ist, schlimmer, am schlimmsten. Das Benn-Gedicht geht immer, würde ich anderen Menschen, die Schreibwerkstätten leiten, sagen; die Schüler und Studenten, die meist in den Schreibwerkstätten sitzen, freuen sich beinahe diebisch daran, aufzuzählen. „Darf ich noch eins?“, fragen die Jüngsten unter ihnen, was bei Gedichten sonst eher selten passiert.

Die Damen, die trotz ihres hohen Alters Schreiben lernen wollen – sofern man das lernen kann, aber Schreiben ist auch Verarbeiten –, haben schon viel Schlimmes erlebt, den Krieg teilweise, Mütter, die sie nicht lieben konnten, den Tod von Partnern, Krankheit sowie jede Menge andere große Traurigkeit, so wird das wohl im Alter. Den Aufgaben, die ich ihnen gebe, den Schreibmotivationen, wie man so schön sagt, geben sie sich mit Eifer und Euphorie hin, aber jetzt stocken sie, sie stocken auf diese damenhafte Weise, höflich, „also nur damit ich das richtig verstehe …“. Sie halten inne, bevor sie zu schreiben beginnen, und als sie vorlesen, halten sie noch einmal inne, weil sie nicht wissen, wie sie das vorbringen sollen, was die Hälfte von ihnen, ohne sich miteinander abzusprechen, getan hat: das Gedicht umwandeln. In eines, das zum Beispiel Was schön ist heißt, oder einfach nur schön.

Das ist meine erste Schreibwerkstatt mit Senioren, und in all den vielen anderen Schreibwerkstätten ist mir das nie passiert. Dass ein „schlimm“ in ein „schön“ umgedreht wurde, weil diese Damen „nicht an das Schlechte denken möchten“. Ich weiß nicht, ob es das Alter ist, das den Blick noch mal umdreht. Wird es uns allen, die wir so oft das Schlechte sehen, auch eines Tages so gehen? Dass wir das „schön“ lieber sehen als das „schlimm“? Es ist für alles immer früh genug. Höchstens wegen des späten Zeitpunkts wäre das ein bisschen schlimm. Ein bisschen.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin über interkulturelle Begebenheiten für den Freitag

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