Im Dunkel

Raumbestattung Der Abriss hat begonnen. Erinnerung an eine letzte Begegnung im Berliner Palast der Republik

Am Anfang war Herr Kull nur ein kleiner, heller Punkt. Ein kleiner, unbestimmt hin und her schweifender Fleck aus weißem Licht auf dem Betonboden, der langsam näher kam und mir in die Augen leuchtete. "Passierschein", sagte er. "Ja", sagte ich. Das weiche männliche Gesicht, das im Widerschein der Lampe zu erkennen war, schien keine Fragen zu haben. Ich fand die Situation absurd, denn es war zwei Uhr nachts und wir befanden uns im Palast der Republik. Die Tür hatte einen Spalt breit offen gestanden, und ich war hineingegangen, obwohl ich gar nicht wusste, was ich hier eigentlich wollte. Einen kurzen Moment lang dachte ich, der Mann wisse es, und er wurde mir unheimlich.

Ich sah den Herrn misstrauisch an, aber er sagte noch immer nichts. "Wie heißen Sie?", fragte ich, weil er nichts von mir wissen wollte. "Kull", sagte er. Das kleine Wort verlor sich in dem finsteren Nichts um uns herum. "Dunkel", sagte ich, und kam mir ziemlich dumm vor. Es war zweifelsfrei dunkel, und Herr Kull bestätigte es durch sachtes Kopfnicken. Hätte er versucht, mich hinauszuwerfen, hätte ich barsch an ihm vorbeimarschieren können. Oder ich hätte mich gefügt und wäre gegangen. So schien die Situation verfahren. Ich stand neben Herrn Kull und Herr Kull neben mir, und wir kamen gemeinsam keinen Schritt voran und keinen zurück. "Sind Sie hier allein?", fragte ich. "Ja, allein", sagte er leise. "Um diese Zeit bin ich immer allein." "Und was machen Sie die ganze Zeit so allein?", fragte ich, um das Gespräch am Laufen zu halten "Ich gehe die große Runde und die kleine Runde", erwiderte er und ließ den Lichtschein seiner Lampe über die Stahlträger gleiten, als wolle er sie streicheln. Er hat nicht alle Tassen im Schrank, dachte ich. "Bloß letzte Woche", sagte Herr Kull, "da war ich einmal nicht allein, ich ging die große Runde wie immer, da bemerkte ich ein Bündel auf dem Boden. Es war ein Mensch, der schlief." Er sah mich unverwandt an. "Wissen Sie, wie ich mich erschrocken habe? Als ich den Kerl weckte, wollte er nicht gehen. Es war ein Irrer, der meinte, er müsse den Palast bewachen. Was sollte ich tun? Man ist doch Wachschützer, und da merkt man plötzlich, wie hilflos man ist." Herr Kull war inzwischen weitergegangen, ich blieb dicht neben ihm. "Mir ist das fremd", sagte er. "Ich bin Elektrotechniker. Wir Techniker sind rationale Menschen." Kull, so ließ er mich wissen, hatte am Palast mitgebaut. Er war noch jung gewesen, Mitte zwanzig erst. Es ging nicht um ihn selbst, nicht um Ruhm und Erfolg, den hatten andere Leute. Er, Herr Kull, war nur ein kleines Licht. Es ging um das Ganze, um die Konstruktion des Palasts, eine kluge, durchdachte Konstruktion - eine Geburt der Vernunft. Wir folgten Kulls Lichtschein. Während er mit sanfter Stimme von Vernunft und Sachverstand sprach, fragte ich mich, ob ich ohne ihn jemals den Ausgang wiederfände. "Heute", sagte Kull, "geht es nicht mehr um Vernunft, sondern nur noch um die Embleme, die draußen pappen, um Plunder also." "Aber die Embleme haben sie doch längst abgeschraubt", warf ich ein. "Aber wegen der Embleme, die da früher gepappt haben, wollen sie die gute Konstruktion zerstören", sagte Kull. "Mir geht es um die Konstruktion. Verstehen Sie?" Er dachte kurz nach. "Das ist doch nicht vernunftgeleitet, wenn man das zertrümmert, einfach in Stücke haut. Das ist doch - irrational." In das Wort "irrational" legte er einen schaurigen Klang. "Ist das nicht furchtbar für Sie, wenn Sie jetzt in der Nacht hier herumwandern müssen, so allein, und bald reißen sie alles weg?", fragte ich. "Nicht doch", entgegnete Kull, "ich bin ein sachlicher Mensch."

Er sah traurig aus. Ich war mir nicht sicher, ob wir die kleine oder die große Runde gingen und ob man Kull in seinen Gedankengängen stören durfte. Sein Gesicht wirkte so, als sei er weit weg. "Gibt´s hier Fledermäuse?", versuchte ich es mit einem neuen Thema. "Nein, nur Irre", sagte Kull.

In der Ferne sah ich den Spalt des angelehnten Tores schimmern, und ich sagte Herrn Kull, ich müsse jetzt gehen. Er kam mit ans Tor, dann machte er kehrt und man sah den weißen Punkt seiner Taschenlampe kleiner werden. Er verschwand wieder in den Tiefen des Palasts.

Vielleicht lag ein Fluch auf Herrn Kull, der ihn zwang, hier seine Runden zu drehen, bis alles in Schutt und Asche fiele. Oder vielleicht war er doch verrückt. Nein, dachte ich. Kull ist einfach ein Freund der Vernunft. Wahrscheinlich reicht das heute aus, um ein bisschen irre zu wirken.


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