Das Besondere ist zuerst seine Kunst. Seit fast 60 Jahren ist er Maler, Grafiker, gelegentlich auch Plastiker. Am 25. Februar wird Sighard Gille 80 Jahre alt. Das Stenogramm seiner Vita: 1980/81 schuf er das 714 Quadratmeter große Deckengemälde an der Frontseite vom Leipziger Gewandhaus, Professor und Leiter einer Malklasse an der dortigen Kunsthochschule von 1992 bis 2006 und in der DDR-Zeit bevorzugt gesammelt vom Kölner Peter Ludwig. Bei einem 80-jährigen Leben kommen Anekdoten hin. Eine erzählt er mir, als ich nach seinem Weg zur Kunst frage: „Mit zwölf habe ich meine Kommunikation mit anderen Menschen eingestellt, hab sogar Nachbarn nicht mehr gegrüßt. Mich mitzuteilen oder für mich selbst etwas zu klären, das ging über Krit
ritzeleien oder Aquarelle viel angenehmer.“Sein Atelier liegt im Stadtteil Plagwitz, den sich die Gentrifizierer gerade vorgenommen haben. Es mögen 150 Quadratmeter sein, die er in einer ehemaligen Werkhalle nutzt. Hell und licht, aber mit den Bildern eines Malerlebens auch nicht besonders geräumig. 2016, zur großen Retrospektive im Museum der bildenden Künste in Leipzig, hat die Kunstwissenschaftlerin Ina Gille, seine Frau, ein Werkverzeichnis vorgelegt: Gille ruhelos. 1.166 Bilder sind dokumentiert mit Abbildung und kurzem Text. Entstanden zwischen 1962 und 2015. Gardine heißt das erste und zeigt eine solche, es folgen Porträts, Akte, Stillleben. Mit dem 2015 entstandenen Bild Patt endet das vorläufige Verzeichnis. Ein Großbild in zwei Teilen, zusammen drei Meter mal sechs Meter dreißig. Eine fantastische Landschaft, die zum Bildkosmos geworden ist. Von Giottos Engel bis zu Saddam Hussein, der den Erdbunker verlässt, darüber Raumschiffe und Raketen. Die alte Welt und die neue Welt, Kultur und Unkultur im Patt.„Es muss mich erwischen“Seitdem sind viele neue Bilder entstanden. Das jüngste trägt die Jahreszahl 2020 und den Titel Der Fund. Es zeigt Arbeiter, die ein riesiges Fabelwesen am Kranhaken haben. Im Hintergrund beobachtet ein Weißkittel die Szene, als wollte er sagen: Die Wissenschaft, meine Damen und Herren Betrachter, verlangt Opfer! Unter dem Bild – wie eine Predella – ein Astronaut, die Verbindung zum Raumschiff ist gerissen, er irrt durchs All. Was hilft die Wissenschaft, so möchte man Bild und Predella des Malers zusammenfassen, was hilft das Wissen dem Leben wirklich? Auch dieses Bild zeigt, wie der Künstler bestimmte Themen nach Jahren wieder aufnimmt, sie in neuen Sujets und Motiven weiterführt.Das mysteriöse Ende des Flugs 447 am 1. Juni 2009 über dem Atlantik regte ihn 2011 zum Bild Von großer Höhe an. Die Anmutung ist friedlich: weiße Wolkenschichten gesetzt gegen einen blauen Himmel. Auf den zweiten Blick wird erkennbar: Wir wohnen einem Höllensturz von Mensch, Insekt und Technik bei. 2013 greift er ihn noch einmal auf im Bild Schwinden. Was schwindet? Der Respekt vor Natur und Kreatur. „Klar will ich“, sagt er im Atelier mit Blick auf die Leinwände, „meine Zeit in Bilder fassen.“ Die Form hat sich in 50 Jahren geändert: Abkunft von einem veristischen Realismus in Rufweite zu Otto Dix, Hinwendung zu einer immer offeneren Bildsprache. Er malt gestischer als am Anfang, schiebt die Farbe über seine Leinwände und zeigt uns ungeschminkt die Spuren des Malens, Spachtelns und Kratzens.Er braucht für seine Bilder einen Auslöser, eine persönliche Erfahrung, eine Nachricht, etwas Bewegendes und Erregendes. „Es muss mich erwischen.“ Dieser alte, uralte Anspruch der Kunst, ihre Zeit ins Bild zu setzen. Sighard Gille sagt es so: „Ich arbeite gegenständlich und figürlich und muss es auch, denn mein Credo ist es, dass ich mit Malerei etwas aussagen möchte. Meine Zeit in Bilder zu fassen – dieser Vorsatz ist automatisch Deutung.“ Das künstlerische Prinzip der Verantwortung. Es kann um Himmels willen nicht unmodern sein, aufgelöst in die Abstraktion, nicht abgetan als DDR-Relikt. Manchmal ist er ein politischer Maler, manchmal einfach nur erotisch, manchmal im Farbrausch schon fast abstrakt. In seinem Atelier steht ein Bild, ein Triptychon: Im mittleren Hauptteil ein nacktes Liebespaar, stark adipös, das schnellen Schrittes nach hinten aus dem Bild strebt. Eine Schlange zischelt aus einem abgebrannten Maisfeld. Vielleicht der Verweis auf die Vertreibung aus dem Paradies? Links zwei ausgetrocknete Katzenmumien, rechts ein irrlichternder Astronaut im All. In Bildern wie diesen scheint der Künstler Mephistopheles auf den Kopf stellen zu wollen. Gille sieht den Menschen als Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. „Der Respekt“, sagt er, „vor unserer Erde schwindet.“ Er denkt es nicht nur an der Staffelei. Er handelt danach. Der Holzeinschlag im Stadtwald von Leipzig treibt ihn zum Protest.Von seiner Sorge um den Stadtwald kommen wir auf die Natur und wie gern er sich in ihr aufhält. Er besitzt seit Anfang der 70er Jahre ein Sommerhaus im Havelland. Scheune, Wohnhaus, Hof. Der Kauf war die berühmte „Gelegenheit“. Das Geld besaß er nicht. Bernhard Heisig, der Lehrer von der Leipziger Kunsthochschule und Nachbar im Havelland, hat es ihm vorgestreckt: achttausend Ost-Mark, kein Pappenstiel. So wurde das flache Land an der Havel sein Verbindungsseil zum Raumschiff Atelier. Dort malt er vor der Natur wie einst die Im- und Expressionisten. Der Wind darf nicht zu scharf gehen, auch der Regen nicht. „Das Land dort, der Himmel, die Landschaft sind Teil von dem, was mich im Leben berührt. Also werden sie gemalt.“ Seine Frau hat von einem „expressiv-gestischen Schub“ gesprochen, weil sich mit der Landschaft die Lust auf Farbe in den 80er Jahren neu belebt hat. „Draußen malen“, sagt er, „bedeutet höchste Konzentration, Selektion der chaotischen Natur, dazu Erfahrungswerte von 50 Jahren Malerpraxis. In vier Stunden muss das Wesentliche stehen, oft passiert anschließend nichts mehr am Bild.“ Darin besteht für ihn der Reiz des Malens: das Chaos der Naturformen zu ordnen. Vor der Landschaft zu malen, bietet die Gelegenheit, sich mit Schönheit aufzutanken. Sighard Gille hat zu allen Zeiten Landschaften gemalt. Bis die Finger klamm wurden oder die Leinwand im Sturm fiel.Die DDR hinterließ SpurenNicht alles war friedliche Landschaft. Geboren als Kriegskind, war Gille acht Jahre alt, als die DDR gegründet wurde. Sie blieb keine Episode und hinterließ Spuren. Heute ein Lächeln, damals nicht immer. 1977 Streit über das Bild Brigadefeier. Gegen die zechenden, rotnasigen Arbeiter, „Tortenengel“ und Tischtänzer kamen 500 Beschwerdebriefe: So sind wir Arbeiter nicht! „Ich wusste, das geht gegen den Strich. So war’s, der Auftraggeber war entsetzt.“ Sein Lehrer Bernhard Heisig schaute sich in Gilles Atelier um, entdeckte ein älteres Bild Gerüstbauer, fast vergessen, irgendwann ohne Auftrag entstanden, stellte es neben die Brigadefeier und riet ihm schlitzohrig, beide zum Diptychon zu erklären. So geht’s!, sagten die Juroren. Schlechter erging es ihm mit seiner Installation Gesellschaft mit Wächter, einer Kombination Bild mit Plastik. Ahnungsvoll hatte Gille nur ein Foto eingereicht. Die Jury hatte Ja gesagt, zum Foto. Als es in der X. Kunstausstellung real aufgestellt worden war, zog eine Kommission von Parteifunktionären und Politikern vor der Eröffnung die Notbremse. Die Wächter-Plastik durfte als „Affront gegen unsere Staatssicherheit und unsere Volksarmee“ nicht gezeigt werden. Gille wollte nicht auf die Plastik verzichten. Also wurde die Installation komplett rausgeschmissen. Am Vorabend! Peter Ludwig, der Kölner Kunstmäzen, wartete nur darauf und hat Gesellschaft mit Wächter sofort angekauft. Stolz erwähnt er, dass Ludwig insgesamt 61 Arbeiten von ihm gekauft hat. Der Sammler mochte ihn, den Künstler und den Menschen. Sighard Gille war kein Staats- und kein Untergrundmaler. Die Bilder dieser im Rückspiegel immer kleiner werdenden Zeit machen sich gut in seinem Werkverzeichnis. „Mittlerweile“, sagt er, „bin ich länger Künstler in der westlichen Ordnung als in der vormaligen.“Aber es wird ihm bisweilen angehängt: Herkunft DDR, dort zu Erfolg gekommen, heute „Schattenmaler“. Das Wort als Überschrift prägte eine westdeutsche Wochenzeitung über ihn. Im Osten, zumal in Leipzig, der Stadt seines Wirkens, überschrieb eine Zeitung ihre Rezension seiner Retrospektive 2016 mit: „Der letzten Titan“. Vorletzte Ost-West-Scharmützel, der Pulverdampf im Abnehmen. Uwe M. Schneede, von 1991 bis 2006 Direktor der Hamburger Kunsthalle, schrieb im Katalog von Gilles Retrospektive dies: „Wo gibt es heute einen Maler, der mit solchem Furor der Farben, der Emotionen, der Sinne, der Realitätsfragmente Grundlegendes aus dem Alltag und von seiner Sicht auf die Welt zu erzählen vermag?“
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