Es ist doch erstaunlich, dass die Väter des deutschen Grundgesetzes so vieles aus der amerikanischen Verfassung übernahmen, aber das Recht auf das Streben nach Glück, wie es die Amerikaner unter „pursuit of happiness“ verstehen, ausließen. Denn was sind Menschenwürde und Menschenrechte ohne die Möglichkeit, sein Leben selbst zu bestimmen? Oder die Hoffnung auf ein besseres Leben? Das Recht darauf ist das eine, aber was ein gutes Leben ausmacht, ist wiederum eine individuelle Entscheidung. Natürlich solange sie sich im Rahmen des Gesetzes bewegt. Das wissen eigentlich auch die Protagonisten in Anne Kuhlmeyers Roman Drift.
Da ist zunächst die Rechtsmedizinerin Metha, für die erst der Tod ein gutes Leben ausmacht. Für den Lektor Albrecht bedeutet gut zu leben, nicht im Abseits zu stehen. Die Deutschrussin Rosalie will eine gute Ehe mit einem ordentlichen Mann. Bauer Jan sucht sein Glück im Kaffee, den er im thüringischen Werratal anbauen will. Und für den 13-jährigen Sydney wäre das Leben vielleicht besser, wenn er als Mädchen geboren worden wäre. Auf den ersten Blick scheinen da wenige Gemeinsamkeiten zwischen diesen fünf Fremden, die zufällig im Hinterland zusammenkommen. Doch das ändert sich drastisch, als der Fluss Werra über die Ufer tritt, ein Erdrutsch aus der Überschwemmung eine tödliche Flut und sie zu Überlebenden macht.
Zusammengepfercht klammern sich Metha, Albrecht, Rosalie, Jan und Sydney in einem abgelegenen, maroden Jagdanwesen samt Grenzschutzbunker aneinander. Und was tut man, wenn die Welt um einen herum unterzugehen droht, man selbst im Bunker wie in einer Arche sitzt und auf Rettung wartet? Man erzählt sich Geschichten. Lebensrettende Geschichten, während das Wasser ringsherum immer weiter steigt und sich das eigene Schicksal unvermittelt und auf tragische Weise mit dem einer gestrandeten Flüchtlingsfamilie verbindet.
Tiefenpsychologie im Werratal
Anne Kuhlmeyers Drift „bietet“ vom ersten Moment an Leichen, genügend Tote auch, aber das Verbrechen findet erst spät statt. Bis dahin muss man als Krimileser bereit sein, sich auf die fantastischen Elemente in diesem genreüberschreitenden Krimi einzulassen. Man muss dem handwerklich soliden und spannenden Fabulieren der Autorin vom ersten bis zum letzten Moment vertrauen. Dann gehen die seltsamen Begebenheiten auf, die plötzlichen Ortswechsel in fremde Kulturen, ebenso wie die unterschiedlichen Erzählperspektiven, bei denen Methas Erzählen bindende, Zeit umspannende Kraft zukommt.
Bei aller Lust an Spannung und Fabulierkunst, die sich schon in Anne Kuhlmeyers vorherigen Romanen und Kurzgeschichten immer wieder ins Fantastische neigte, bleibt hinter der vordergründigen Frage nach dem „guten Leben“ inhaltlich vor allem die Betrachtung der zerstörerischen Gefahr dahinter. Mit anderen Worten: Hier geht es um Schuld, Verantwortung und, ja, Moral. Das sind wesentliche Elemente eines figurenorientierten Krimis, der in die psychologische Tiefe gehen könnte. Doch statt für die tiefenpsychologische Innenschau entscheidet sich Anne Kuhlmeyer mit Drift für unterhaltsame Spannung, die sie sehr anschaulich und mit einer äußerst dichten Atmosphäre aus der „Mitte Deutschlands“ unterfüttert.
Die 1961 in Coesfeld geborene, seit langem im Münsterland beheimatete Autorin erzählt also wie schon zuvor und zuletzt in Nighttrain (2015) auch in Drift wieder eine Geschichte aus ihrer alten Heimatregion. Und sie schafft mit der Rechtsmedizinerin Metha trotz aller Fantastik eine extrem glaubwürdige „Kollegin“. Kuhlmeyer kennt sich aus, sie arbeitete selbst viele Jahre als Fachärztin für Anästhesiologie. Wenn sie nicht schreibt oder als Redakteurin bei CulturMag oder als Mitglied des kriminalliterarisch-feministischen Netzwerks Herland unterwegs ist, arbeitet die Schriftstellerin seit 2009 auch als Traumatherapeutin.
Info
Drift Anne Kuhlmeyer Ariadne Krimi 2017, 320 S., 12 € und als E-Book im CB-Verlag
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