Wenn Chinesen von der 2.500 Jahre alten Stadt Suzhou sprechen, schwärmen sie von einem Paradies der Sterblichen oder auch dem Venedig des Ostens. Obwohl diese Vergleiche übertrieben scheinen und eher einer chinesischen Vorliebe für euphemistische Metaphern entspringen, lohnt ein Besuch Suzhous unbedingt: Gerade einmal eine rasante Zugstunde von Chinas ökonomischer Schlagader Shanghai entfernt, im fruchtbaren Land von Fisch und Reis und am alten Kaiserkanal gelegen, hat Suzhou als eine der wenigen Städte des Landes ein sympathisches Stück chinesischer Überlieferung in die pochende Moderne retten können. Und sich somit - neben einer Reihe erstklassiger Sehenswürdigkeiten - viel südlichen Charme erhalten. Im August, wenn die drückende Som
Sommerschwüle zuweilen einer angenehmeren Wärme weicht, kann man zu Fuß einen jener berühmten, Jahrhunderte alten Gärten aufsuchen, die von fast jedem Punkt der Innenstadt leicht erreichbar sind. Ein gesetzter Spaziergang zum Garten des Verweilens im Westteil Suzhous bietet eine vorzügliche Gelegenheit, die Menschen in ihrem Alltagsleben entlang der Wohnhöfe und Kanäle zu beobachten. Die Alten sieht man in den abgelegenen Gassen bei gelassenem Geplauder, die Kinder beim Spiel mit Drehkreisel und Peitsche. Manche binden zirpende Grillen an lange Grashalme und lassen sie wie Luftballons hinter sich her fliegen. Hier und da verstecken sich gedrungene Teehäuser hinter einem der stillen Höfe. Auf den Kanälen ziehen überladene Lastkähne träge durch schmutziges Brackwasser. Alte, windschiefe Häuser, die sich dem Besucher entgegen neigen und mit Dächern voller unbefestigter Ziegel aufwarten, komplettieren das Stillleben einer fast zeitlosen Idylle. Vor vielen Türen stehen hölzerne, ausgespülte Bettpfannen zum Trocknen - und der scharfe Geruch öffentlicher Bedürfnisanstalten lauert in diesen alten Quartieren zuverlässig an jeder Straßenecke. Weit über 100 Gartenanlagen kennt Suzhou. Ausnahmslos bürgen sie für die feinnervige südchinesische Gartenarchitektur, die zum Promenieren und Entdecken einlädt und der geradlinigen, axialen Baukunst des Nordens mit einer Vehemenz begegnet, die streitbarer kaum sein kann. Dort so gewaltige Anlagen wie der Pekinger Sommerpalast oder die Verbotene Stadt, die mehr beeindrucken, als dass sie bezaubern wollen - und hier, im Süden, ein verhaltenes Spiel mit den Gefälligkeiten der Natur. Einige der Gärten Suzhous haben es soweit gebracht, in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen zu werden. Den Garten des Verweilens steuert man am besten um die Mittagszeit an, wenn das Gros der einheimischen Touristenschwärme und ihre mit Megaphonen bestückten Reiseführer laut schmatzend zu Tisch sitzen. Das drei Hektar große Areal ist wegen eines langen Wandelgangs berühmt, der mit einer Vielzahl berühmter Kalligraphien, mit Bildern und allerlei Kunsthandwerk verziert ist. Den Windungen dieses Weges folgend schaut man immer wieder durch geschnitzte Fenster und genießt einen Ausblick auf den Garten. Oder man gerät in die mit klassischen Möbeln eingerichteten Zimmer kaiserlicher Beamter, die hier früher gelebt und gearbeitet haben. Der Hauch von Selbstgefälligkeit, den das wuchtige Mobiliar verströmt, scheint zu erklären, warum China bereits lange vor dem Untergang der letzten Dynastie 1911 in Dekadenz und Erstarrung versunken war. In der Parkmitte liegt ein schattiger Teich, dessen löchriger, säulenförmiger "Naturstein des Tai-Sees" als Wahrzeichen der Anlage gilt. In kurzer Zeit wird er umringt sein von chinesischen Touristen, die für ihre daheim gebliebenen Verwandten vor der Kamera gerade stehen und für Erinnerungen sorgen. Nur privilegierte Chinesen - Kader oder private Geschäftsleute - können sich das individuelle Reisevergenügen durch dieses Paradies leisten. Auf dem Rückweg ins Stadtinnere passiert man die städtische Teemanufaktur. Als wichtiger Produzent seltener und erlesener Sorten überrascht Suzhou mit einer beachtlichen Kollektion feinster Blüten und Blätter, die je nach Sorte und Zubereitung die Hitze im Körper vertreiben, Störungen der Verdauung beheben oder schlicht für allgemeines Wohlbefinden sorgen. An den zur Straße hin gelegenen Verkaufstheken nimmt sich ein junger Mann ausgiebig Zeit, mir Nutzen und Wirkung dieser Dutzenden von Mischungen zu erklären. Für eine schöne, frische Haut - überredet er mich - sei es unverzichtbar, mindestens 100 Gramm duftenden Rosenknospentees zu erwerben. Wer hartnäckig feilscht und das wehleidige Klagen ihrer sehnigen Besitzer als Teil des Geschäfts begreift, kann sich in Suzhou an jeder Kreuzung für eine Handvoll Yuan in den bequemen Sitz einer Rikscha fallen lassen, um nach dem Garten des Verweilens den Garten des Meisters der Netze in Augenschein zu nehmen. In diesem winzigen, äußerst charmanten Park spiegeln sich bunte Blumen, krüppelige Kiefern und kleine Pavillons in künstlichen Seen. Über Zick-Zack-Brücken gelangen die Besucher sicher ans andere Ufer, nach chinesischem Aberglauben können sich Geister nur geradeaus bewegen. Unter einer dem Park zugehörigen Rotunde eines Teehauses genieße ich erschöpft ein Kännchen und sitze inmitten der schrumpeligen Alten. Mit Blick auf die gesamte Anlage fällt deutlich auf, wie sich die chinesische Gartenarchitektur von der europäischen unterscheidet: Es besteht eine jederzeit nachvollziehbare Symbiose zwischen Natur, Mensch und Architektur. Aus verschiedenen Perspektiven lässt sich ein vollkommen unterschiedlicher, doch stets in homogenen Bildern gerinnender Eindruck gewinnen, der eine unverwechselbare Gartenlandschaft im Gedächtnis des Besuchers haften lässt. Im Gegensatz zu vielen anderen chinesischen Städten konnte sich Suzhou der Kulturrevolution, mit der Mao Zedong ab Mitte der sechziger Jahre die Volksrepublik in ein zehnjähriges Chaos und bis heute nicht vollends überwundenes Trauma zwang, zumindest zum Teil entziehen. Dies zeigen die von jeder Zerstörung verschont gebliebenen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ob sich die Altstadt, die Quartiere, die Gassen und Kanäle allerdings der gegenwärtigen "Kulturrevolution" - der fast 25 Jahre über das Land hinwegfegenden radikalen Modernisierung - ebenso verweigern können, wird sich zeigen. Die vielen bereits abgerissenen Altstadtteile und zugeschütteten Kanäle geben wenig Anlass zu übertriebenen Hoffnungen. Dennoch, seit einigen Jahren werden auch in China Stimmen lauter, die fordern, Traditionen nicht blindlings der Moderne zu opfern. Und in Suzhous Innenstadt entdeckt man bei genauem Hinsehen hier und da statt plumper Hochhausarchitektur oder Plattenbauten schöne moderne Wohnkomplexe im überlieferten Stil. Dies gilt nicht zuletzt auch für die gehobeneren Speisetempel der Stadt, in denen sich abends die Bürger Suzhous zu üppigen Essgelagen versammeln und Gerichte wie "Krabbenfleisch mit zarten Gemüseherzen" oder "rotgebeizte Schweinshaxe" vorsetzen lassen. Jedoch genießt man ein Menü mit raffinierten Fischspeisen, Fleisch- und Gemüsegerichten besser nicht in der Innenstadt, sondern am typischsten in einem der grellbunt beleuchteten Restaurants in der Umgebung des daoistischen Xuanmiao-Tempels, der selbst schon einen Besuch wert ist. Daneben, in einer Passage, schallt das schrille "Lai lai lai!" der winkenden Kellner. "Kommen Sie herein, kommen Sie", werden die Zögernden zu Tische geschrieen. Zum Dessert im Hochsommer empfiehlt sich übrigens eine Kaltschale aus silbernen Wolkenohrpilzen und nussfarbenen Datteln, die ihren zuckerweißen Sirup auch über knusprige Mandelhälften verteilen. Wer es verträgt, gönnt sich zu diesen Delikatessen einen starken Mao Thai, den die Chinesen an den Nachbartischen gleich flaschenweise leeren. Bunt bebilderte Rikschas stehen vor jeder Tür eines Restaurants bereit, denn zur Vollendung eines Tages in Suzhou gehört ein Abstecher zum geschäftigen Kaiserkanal oder an die südliche Peripherie, wo einige alte Dörfer mit steinernen Bogenbrücken und schmalen Kanälen wie im Bilderbuch westliche Sehnsüchte nach ursprünglicher chinesischer Kultur bedienen. Der Ort Luzhi ist zu Recht berühmt für seine bezaubernde Architektur - kleine Wasserläufe und dörfliche Beschaulichkeit, die trotz einer wachsenden Touristenzahl noch nichts von ihrem Reiz verloren haben. Wer Zeit hat, sollte ein wenig umher wandern, die Gedenkhalle des von Anton Tschechow inspirierten und hier geborenen Schriftstellers Ye Shengtao oder den Tempel mit seinen in ganz China berühmten Buddhafiguren aus der Tangzeit besuchen. Oder - und das ist so reizvoll wie aufschlussreich - viel chinesischen Alltag im Abendlicht erleben.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.