Im Latino-Viertel

San Francisco Als Lateinamerikaner kann man über die Wunden und Enttäuschungen der Welt nicht hinwegsehen. Trotzdem machen wir Platz zwischen den Stühlen, wechseln die Musik und tanzen

Gestern war ich auf einer Party hier in San Francisco, in der Stadt, in der ich lebe. Auf einer x-beliebigen Party, auf der niemand tanzt. Die Menschen bilden lieber Mikro-Gruppen und sprechen über die Arbeit, den Wert des Eigentums, die kommunalen Wahlen, ein Buch oder einen Film. Plötzlich wurde mir eine junge Frau vorgestellt. Sie sagte: „Du bist aus Costa Rica! Ich bin Mexikanerin!“ Und das Glück trat ein. Es ist ein kleines Glück, aber ein besonderes. Den ganzen Tag war ich durch ein Meer anderer Kulturen gesegelt, und auf einmal ist da eine Person, mit der ich rasant Spanisch reden, gestikulieren, Kommentare mit doppelter Bedeutung machen kann, all diese Dinge, die wir beide stunden-, tage, vielleicht jahrelang zurückgehalten haben. Wie viele Lateinamerikaner glaube ich, dass wir uns innerhalb von Minuten in Freunde und Verwandte verwandeln. Wir gehen sofort auf die Suche nach diesem Etwas, einer Stadt, einem Vorfahren, einem Buch, einem Wiegenlied, nach diesem ausschlaggebenden Element, das uns eint, obwohl wir zwei von 600 Millionen sind.

Lateinamerikaner zu sein bedeutet auf jeden Fall, voller Zweifel zu sein. Es bedeutet, aus einer unwahrscheinlichen Mischung aus Genen, Ethnien, Nationalitäten, Sprachen und heroischen Reisen zu Wasser und zu Land zu kommen. Wer weiß, welcher historische Zufall uns dort hingebracht hat, wo wir heute sind? Zwischen uns liegen unendlich viele Städte, Inseln, Vulkane, Gebirge, Wüsten und tropische Urwälder. Wir sind alle unterschiedlich und dennoch bestehen wir darauf, eine Gruppe zu sein, eine Gemeinschaft, ein imaginärer Ort, den wir mit der Handfläche auf der Erdkugel kennzeichnen können.

Deshalb gefällt es mir, im Mission District, im Latino-Viertel von San Franciso, auszugehen. Hier befinde ich mich in einer Geographie der Gewissheiten. Es ist der einzige Ort, an dem es völlig normal ist, mit Unbekannten in einem Café oder einer Bushaltestelle zu reden. Ich laufe im Regen und ein junger Mann sagt zu mir: „Hey, werd‘ nicht nass“, ein unübersetzbares Kompliment. Ein älterer Herr fragt mich, was ich lese. Der Park ist voll von Jugendlichen, die sich wie Besessene küssen. Mit fremden Kindern zu spielen und zu sprechen, ist normal. Im Latino-Viertel verwandeln sich alle Frauen in meine Tanten, die mir Orte empfehlen, an denen ich nostalgische Zutaten kaufen kann.

Jedes Mal, wenn ich denke, dass wir doch zu sechst in ein Taxi passen, oder ich in großen Mengen koche, da „man nicht weiß, wer alles kommt“, oder ich mich einfach „gegen drei Uhr“ verabrede, ahne ich, dass alles von einem mysteriösen, lateinamerikanischen Ort herrührt. Ein tiefgründiger Ort, wo ich skandalöse Partys, Taufen und Beerdigungen aufbewahre, die sich wenig voneinander unterscheiden; Großfamilien, in deren Leben sich die Philosophie, der Urlaub am Meer, die Poesie, der Boxkampf und das Sonntagsessen in einer beliebigen Ordnung und beliebigen Proportionen mischen.

Ich glaube, dass wir Lateinamerikaner ein wenigstens anekdotisches Bewusstsein der Armut miteinander teilen, der Gewalt und Korruption, der Ungerechtigkeit und dem Mangel, des Konservativismus, der Ohnmacht vor dem Übermaß dieser Dinge. Für einige von uns ist es das, was uns davon fern hält. Es ist schwer, Lateinamerikaner zu sein und sich unbewusst zu bleiben, dass die Welt voller Wunden und Enttäuschungen ist. Und ungeachtet dessen lachen wir viel, mögen uns, suchen uns auf Partys. Wir machen Platz zwischen den Stühlen, wechseln die Musik und tanzen.

Lena Zuñiga wuchs in San José in Costa Rica auf. Sie ist Journalistin, Sozialwissenschaftlerin und Autorin. Seit zehn Jahren lebt sie in San Francisco, Kalifornien und scheibt das Blog itzpapalotl.org


Auf schreiben 20 lateinamerikanische und deutsche Autorinnen und Autoren unter 40 Jahren von Juni bis Oktober 2010 über ihren Alltag. Sie erzählen in Blog-Einträgen von persönlichen Erfahrungen und Realitäten, darüber wie sie in ihren Ländern Geschichte, Sexualität, politische Teilhabe und Globalisierung wahrnehmen. Alle Texte werden ins Deutsche übersetzt. Eine Auswahl finden Sie auf freitag.de/superdemokraticos ebenso wie alle Blogs aus der Freitag-Community zum Thema Lateinamerika. Wer selbst dort erscheinen will, versieht seinen Blogeintrag auf freitag.de mit dem Tag superdemokraticos.

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Übersetzung: Marcela Knapp

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