Im Licht des Relativen

Liberalismus In seinen Essays warnt der politische Philosoph Isaiah Berlin vor dem Streben nach absoluten politischen Idealen

Wer das Vergnügen hatte, im vorigen Jahrhundert die Wirren der Geistesgeschichte studieren zu dürfen, der wird unweigerlich dem Namen Isaiah Berlin begegnet sein – weniger weil er schlagende und bleibende philosophische Theoreme formuliert hätte, sondern als eine Art Verheißung gelebten Denkens. Das mag auch daran liegen, dass Isaiah Berlin in seinen Texten stets als fragend Suchender auftritt. Er ist ein Philosoph, der das Erzählen bevorzugt, und so sind seine Bücher meist eher Essays als strenge Abhandlungen.

Nehmen wir nur den Text Das Streben nach dem Ideal, der den Band Das krumme Holz der Humanität einleitet. Berlin erzählt darin von seiner Entdeckung der sozusagen totalitären Versuchung in der abendländischen Philosophie: „Gemeinsam war all diesen Anschauungen die Zuversicht, dass es für die zentralen Probleme Lösungen gebe, dass man sie ausfindig machen und mit genügend uneigennütziger Anstrengung auf Erden auch verwirklichen könnte. Sie alle teilten die Überzeugung, dass es zum Wesen des Menschen gehöre, darüber entscheiden zu können, wie er leben wolle: Gesellschaften konnten im Licht wahrer Ideale umgewandelt werden, sofern man nur mit genügend Eifer und Hingabe an die Ideale glaubte.“

Über die Schulter

Doch Isaiah Berlin hält dagegen: Die Idee einer letzten großen Wahrheit scheint ihm unmöglich und – was vielleicht noch wichtiger ist – sie erscheint ihm gar nicht erstrebenswert. Wahrheiten sind wie das Gute und das Schlechte stets relativ. Sie sind an Kontexte gebunden, und was in dieser Situation aus guten Gründen richtig scheint, verkehrt sich im nächsten Moment und in neuer Konstellation ins Gegenteil. Kurzum, die Politik im Zeichen absoluter Ideen führt unweigerlich in die Gewalt.

Und wenn wir die nächsten Essays über den Verfall des utopischen Denkens lesen, die Abhandlung über den Relativismus oder die Studie über den konservativen Denker Joseph de Maistre, dann dämmert uns bald, dass der Liberalismus als philosophische Theorie so lau und langweilig ist wie als politische Haltung. Und dennoch liest man gerade die Texte von Isaiah Berlin mit einer gewissen Spannung. Wahrscheinlich weil man dem Theoretiker des Liberalismus beim Bauen seines Weltbildes so hübsch über die Schulter schauen kann.

Es geht stets um den einen und selben Konflikt zwischen dem Streben nach letzter Wahrheit einerseits und den Ansprüchen einer Realität voller Widersprüche und unterschiedlicher Werte und Anschauungen andererseits. Hier die absolute Idee, dort das Relative des Realen und der Menschen. Berlin will nicht, dass wir uns mit dem Ganzen beschäftigen, daran würden wir uns überheben, und er verweist auf Hitler, Stalin und andere grauenvolle Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.

Insgeheim verweist er natürlich auch auf seine eigenen Erfahrungen: Isaiah Berlin wurde am 6. Juni 1909 in Riga geboren. Er würde in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag feiern, wäre er nicht bereits 1997 gestorben. Er entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie, die allerdings wegen der antijüdischen Stimmung im Baltikum nach Petersburg umzog.

Dort erlebte Berlin den 1. Weltkrieg und die russische Revolution. Die Familie floh nach London. Isaiah konnte in Oxford studieren und England wurde ihm zum Inbegriff einer liberalen Lebensart. In Oxford erhielt er später auch eine Professur für politische Philosophie.

Wenn also das Streben nach dem Ideal geradewegs ins Unheil führt, dann bleibt dem Liberalen eine Sphäre des Lokalen und des pragmatisch Handhabbaren. Berlin beschwört die Unlösbarkeit des Menschen, seine Unerlösbarkeit. „Das Beste, was man erreichen kann, ist in aller Regel die Aufrechterhaltung eines prekären Gleichgewichts, das ausweglose Situationen, in denen unerträgliche Entscheidungen zu treffen wären, vielleicht gar nicht erst entstehen lässt – hierin besteht die erste Forderung nach einer erträglichen Gesellschaft; hiernach können wir immer streben, auch wenn unser Erkenntnishorizont beschränkt und unser Verständnis für Individuen und Gesellschaften durchaus unvollkommen ist.“

Die liberale Mitte

Im Grunde begründet sich diese Theorie des Liberalismus allein durch seine Ablehnung von „Endlösungen“ und absoluten Idealen. Und insofern laufen wir alle Gefahr als Liberale zu enden, denn wer könnte dem nicht zustimmen?

Doch ein rascher Blick auf die real existierende Realität zeigt: finsterste Diktaturen, entsetzliche Kriege und grausame Destruktivität bedürfen keineswegs absoluter Ideen oder geschichtsphilosophischer Fundierung. Doch interessanterweise nehmen Liberale in der Praxis an diesen Realitäten selten Anstoß. Hat man je davon gehört, dass Isaiah Berlin gegen das Apartheidregime in Südafrika protestiert hätte oder gegen die Folter der Franzosen in Algerien? So wenig wie die liberale Mitte unserer Tage Probleme hat, mit einem so unerträglichen Folterer wie dem ägyptischen Präsidenten Mubarak zusammenzuarbeiten.

Und es ist gewiss kein Zufall, dass Berlin in den siebziger Jahren zum bekanntesten britischen Intellektuellen avancierte, der bei Hofe so gerne empfangen wurde wie von der britischen Premierministerin Margret Thatcher. Mit anderen Worten: sein heroischer Kampf gegen das Absolute hat den Liberalismus noch nie daran gehindert, die Schweinereien des Relativen zu übersehen oder gar mit ihnen zu paktieren. Und so fragt man sich, welches Problem der Liberalismus eigentlich glaubt, lösen zu können.

Bei der Lektüre seines Essays kann man förmlich spüren, wie der Autor Seite für Seite die geheimste Wonne seines Liberalismus zelebriert, nämlich einem feinen Glauben zu huldigen, der zu nichts verpflichtet, aber fast alles erlaubt.

„Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.“ So heißt es in einem Versfragment des griechischen Dichters Archilochos. Ein Vers, der gewissermaßen das ganze Weltbild von Isaiah Berlin zusammenfasst. Und so heißt auch ein Essay Berlins über Tolstois Geschichtsverständnis, den die Bibliothek Suhrkamp aus gegebenem Anlass als eigenen Band veröffentlicht hat. In diesem Text zeigt Berlin, wie der Kampf des Vielen gegen das Eine, das vorläufige Reale gegen das Absolute auch Tolstois Leben und Werk geprägt haben soll. Es steht allerdings zu befürchten, dass Tolstois Seele komplexer war als die außerordentliche triviale Theoriematrix dieses philosophischen Liberalismus zu erfassen vermag.

Isaiah Berlin, Herausgegeben von Henry Hardy, Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Mit einem Vorwort von Franziska Augstein, Berlin, 2009, 430 S., 26
. Isaiah Berlin, Aus dem Englischen von Harry Maor, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 105 S., 12, 80

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