Im Olympiastadion

Berliner Abende Kolumne

Ich hatte am vergangenen Wochenende Besuch von einem Schulfreund aus Taunusstein. Karsten ist ein großer Fan des SV Wehen, und seit der Aufstieg seines Vereins, in dem er selbst in der C-Jugend gekickt hat, in die 2. Bundesliga feststeht, kommt er aus dem Feiern nicht mehr heraus. Vor lauter Begeisterung hat er sich zwei Wochen Urlaub genommen, und vier Tage davon verbrachte er in Berlin. Und weil sich bei ihm zur Zeit alles um Fußball dreht, wollte er sich unbedingt das Olympiastadion ansehen.

"Du weißt aber, dass gerade Sommerpause ist und keine Spiele stattfinden", sagte ich.

"Das ist egal", antwortete er.

Und so schaute ich mir an einem bedeckten Frühsommertag das leere Olympiastadion an. Ich hatte das vorher noch nie gemacht. Ich war immer nur zu Fußballspielen hier gewesen. Ich hatte bisher keinen Grund gesehen, in ein leeres Stadion zu gehen, aber jetzt stand ich an der Kasse vorm Osttor und kaufte mir ein Ticket.

Wir setzten uns auf zwei Plätze auf der Haupttribüne.

"Ob ich hier irgendwann mal meine Wehener Jungs bei einem Spiel anfeuern werde?"

"Warum nicht", antwortete ich. "Wehen muss nur die Klasse halten und Hertha nächste Saison absteigen. Oder, noch besser: Hertha hält die Klasse, und Wehen macht den Durchmarsch und steigt in Liga 1 auf."

"Mein Dorf gegen die Hauptstadt", sagte Karsten, "das wär´ schon klasse." Er stieß einen kleinen Seufzer aus.

Wir betrachteten den Rasen. Der Rasen war eingerahmt von der blauen Tartanbahn. Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander und ließen das stille Stadion auf uns wirken. Warum hatten sie den Rasen eigentlich nicht weiß eingefärbt, dachte ich. Dann hätten die Vereinsfarben von Hertha gestimmt. Aber so. Ich musste an den Spruch meines Onkels Peter denken: Grün und blau schmückt die Sau.

"Wusstest du eigentlich, dass das Olympiastadion nach dem Umbau von der UEFA den Status eines 5-Sterne-Stadions erhalten hat?", sagte Karsten und riss mich aus meinen Farbüberlegungen.

"Ein 5-Sterne-Stadion? Davon habe ich ja noch nie gehört."

"Und was soll das sein? Bekommen die Spieler in der Halbzeitpause in der Kabine ihre Getränkeflaschen von Kellnern auf einem Tablett serviert?"

"Ach, was weiß ich, jedenfalls ist es ein 5-Sterne-Stadion." Karsten lehnte sich in seinem Sitz zurück. Und fuhr im selben Moment wieder hoch. "Mensch, das hätte ich ja fast vergessen." Er holte einen Zettel aus der Hosentasche und faltete ihn auseinander. Auf dem Zettel war ein Fußballfeld aufgezeichnet. An einer Stelle war ein dickes Kreuz.

"Siehst du das?", fragte er mich.

"Ja, ich bin doch nicht blind".

"Das müsste dort sein." Er zeigte mit dem Finger auf den Rasen irgendwo zwischen Mittelkreis und Tor.

"Und?", fragte ich.

"Da hat sich das WM-Finale entschieden", sagte Karsten. "Materazzi, du weißt schon, und Zidane dann mit seinem Kopfstoß."

Er holte seine Kamera heraus und machte ein Photo.

"Stimmt", sagte ich. "Das ist hier gewesen."

Wir schauten einen Moment andächtig auf das historische Stück Grün.

"Ich würde mir das Ganze gerne noch von außen ansehen", sagte Karsten schließlich. "Kommst du mit?"

Ich nickte. "Na klar, lass uns die fünf Sterne umrunden."

Wir standen auf und schlenderten um das Stadion. Karsten blieb lange vor dem Olympiator stehen und studierte die Tafel mit den olympischen Disziplinen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in den Himmel. Die Wolken rissen gerade auf.

Und dann entdeckte ich etwas.

"Sieh dir das an", sagte ich und zeigte in den Himmel.

Karsten sah nach oben. "Das sind Vögel".

Er hatte Recht, aber da war noch mehr. Unter dem neuen Dach des Berliner Olympiastadions gab es Hunderte von Vogelnestern. Es war ein richtiges Vogelhochhausneubaugebiet, in dem mächtig Betrieb herrschte. Wenn man länger nach oben sah, konnte man die Einflugschneisen und Hauptverkehrswege erkennen. Und es schien auch so etwas wie Verkehrsregeln zu geben. Natürlich nicht dieses klassische Rechts-vor-Links, es war eher ein Oben-vor-Unten, aber der Schulterblick beim Überholen kam in abgewandelter Form auch am Himmel über dem Olympiastadion vor.

"Ob die sich auch das WM-Finale angeschaut haben?", überlegte Karsten.

"Bestimmt", sagte ich. "Wenn sie keine Fußballfans wären, hätten sie sich wohl einen anderen Wohnort ausgesucht."

Karsten hielt seine Kamera in den Himmel und drückte ab. "Oh Mann, so gut würde ich es auch gern haben: 5-Sterne-Luxus und Fußball frei Haus."


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