Im Reich der Räume

Unterwegs Ein Bildband dokumentiert die Wanderungen der Nomaden

Es ist nicht mehr zu übersehen: Die Orte lösen sich auf. Wer sich in den westlichen Metropolen vorwärts bewegt, der merkt schnell, dass alles, was man bis dato unter Räumlichkeit verstanden hatte, unter den Füßen wegbricht. Die urbanen Gesellschaften ordnen sich die Dimensionen neu. Mittels digitaler Datenübertragung bastelt man Stück für Stück am Traum postmoderner Telecities. Nicht mehr die Geographie, sondern allenfalls die Knotenpunkte im Netz der Kommunikation entscheiden über Funktion und Aussehen unserer Umwelt. In den sogenannten Informationsgesellschaften scheint so etwas wie Raum lediglich noch eine Kategorie für hoffnungslose Idylliker zu sein.

Solche Umwandlungen aber gehen ans Eingemachte. Das Wort von der »Medienrevolution« kommt da fast noch zu beiläufig daher. Für den Journalisten Anthony Swift und die Ethnologin Ann Perry aber trifft es den Nagel wohl auf den Kopf. Denn wo Medientheoretiker noch den Fortschritt loben, da sinnieren sie bereits wieder über die ersten Tage der Menschheit nach. In ihrem neuen Buch jedenfalls stellen Swift und Perry Gesellschaften vor, die für den modernen Cybersurfer fast schon konterrevolutionär erscheinen müssen: Die letzten bekannten Nomadenvölker. Deren Medium nämlich, so heißt es bereits auf den ersten Seiten, sei nicht die Zeit, sondern der Raum.

Vor diesem Hintergrund wirken die zahlreichen Fotografien ihres Buches, die unter anderem von so namhaften Fotografen wie Stuart Franklin oder Thomas Hoepker beigesteuert wurden, wie Schlüssellochimpressionen aus dem temporum aurum. Es sind Bilder von arabischen Beduinen, kongolesischen Mbuti und australischen Aborigines. Vor allem aber sind es Aufnahmen von Landschaften - fast etwas verkitscht, was eben daran liegen mag, dass sie dem westlichen Betrachter längst aus den Händen geglitten sind.

Für die in dem Buch vorgestellten Nomaden aber sind sie die grundlegende Kategorie des Denkens. So erzählt etwa eine Aborigine, dass das Land nicht nur Bestandteil ihres Traums, sondern ebenso ihres Körpers sei. Und in unzähligen rituellen Liedern beschreiben die australischen Ureinwohner jeden Berg und jede Baumgruppe, denen sie auf ihren Wanderungen begegnen.

Zeit scheint für diese Menschen eine zu vernachlässigende Größe zu sein. Sie bestimmt sich allenfalls in den Intervallen zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Alles dazwischen scheint magische Wiederkehr, die sie mit den Generationen vor und nach ihnen in Verbindung setzt.

Da schillert auf den gut 150 Seiten des Buches durchaus Zivilisationskritik durch. Doch Swift und Perry zeichnen mehr als die Konturen des koventionellen Jurten-Kitschs nach. So werden beispielsweise Beduinenstämme beschrieben, deren Kamele längst von alten Lastwagen wegrationalisiert worden sind. Denen wird von den arabischen Hirtennomaden zwar eine ähnliche Liebe entgegengebracht, wie einst den Vierbeinern, doch derart motorisiert beginnen auch die Räume unter den Nomadenvölkern enger zu werden. Für den nostalgischen Fortschrittsskeptiker wäre das vermutlich nur das Ende der Beschaulichkeit, für die Nomaden aber das Ende ihrer kulturellen Identität.

Anthony Swift und Ann Perry: Nomaden. Auf den Spuren der Tuareg, Inuit und Aborigines. Knesebeck, München 2002, 148 S., 29, 90 EUR

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