BANGALORE In der indischen Software-Metropole wächst mit dem Reichtum die Armut und vor allem der Wohlstandsmüll, der für viele Bewohner zur einzigen Existenzgrundlage geworden ist
Bangalore gilt als das Silicon Valley Indiens. Alle großen Computer- und Softwarehersteller entwickeln und produzieren in der südindischen Fünf-Millionen-Metropole. Verteilt über die ganze Stadt existieren 400 Slums, in denen eine Million Menschen hausen. Viele leben vom Müll der Reichen.
Mitten im Müll steht die Waage. Ein Papierhändler, mit Rohrstock bewaffnet, steht daneben. Er mißt grimmigen Blickes die Tagesleistung der Müllsammler oder wastepicker, wie man sie in Bangalore nennt. »Eine halbe Rupie bekommen wir für ein Kilogramm minderwertiges Papier«, erklärt Dhana Lakshmi und hebt vom matschigen Boden einen braunen Papierfetzen auf. »Weißes Papier wie ihr Notizblock«, sagt die 13jährige Müllsamm
jährige Müllsammlerin strahlend, »bringt viel mehr. Dafür bekommen wir zwei Rupies.«Es stinkt auf der fußballplatzgroßen Mülldeponie »Cement Colony« im gleichnamigen Slum, der sich mitten im Stadtgebiet befindet. Frauen und Mädchen wie Dhana Lakshmi sitzen zwischen großen, prallgefüllten Müllsäcken und sortieren den Unrat in verschiedene Kategorien: Plastik, Flaschen, Organisches, helles und dunkles Papier, Metall und Karton. Eine Kuh sucht seelenruhig nach Freßbarem. Räudige Hunde streunen umher. Dazwischen viele kleine Kinder, die halbnackt im unsäglichen Chaos spielen. Viele von ihnen husten und haben Hautausschläge.Lakshmi schiebt einen dicken, speckigen Vorhang beiseite. »Hier wohnen wir«, verrät sie und gewährt einen kurzen Blick in ihr Zuhause, das sich am Rande des Deponiegeländes befindet. Es hat nicht die Qualität einer hiesigen Hundehütte. Es ist ein dunkles Loch, ohne Fußboden, ohne Fenster, ohne Bett, das löchrige Dach aus Bauschutt zusammengeflickt. Armut kennt nach unten keine Grenzen. Und so wohnt Lakshmi mit ihrem Vater und ihrer Mutter auf lausigen sechs Quadratmetern. »Meine Eltern sind arbeiten«, sagt sie. Ihr Vater schuftet in einer Reifenfabrik, ihre Mutter sammelt Müll. Zum Abschied gibt sie dem unerwarteten Besuch aus der fremden Welt ihre Hand, die sich anfühlt wie trockenes Leder und in die sich tiefe Hautfalten eingegraben haben.Nackte soziale Realität in einer nicht nur für indische Verhältnisse reichen Stadt, deren Einwohnerzahl sich in nur drei Dekaden auf heute fünf Millionen verdoppelte. Der begehrte Standort für Mikroelektronik, Flugzeugbau und andere High-Tech Branchen hat eine breite indische Mittelschicht hervorgebracht, die aufgrund gutbezahlter Jobs ein sorgloses Leben in teuren, nach westlichem Komfort ausgestatteten Wohnanlagen führt. Abseits davon - quasi im Schatten des digitalen Zeitalters - vegetieren fast eine Million Menschen, über das ganze Stadtgebiet verstreut, in mehr als 400 Slums.Viele der Bewohner leben vom Wohlstandsmüll. »Wir können davon ausgehen, daß in Bangalore rund 25.000 Menschen als wastepicker unterwegs sind«, sagt Anselm Rosario. Als Müllexperte und Sozialarbeiter ist er Koordinator von »Waste Wise Asia Pacific«, einem asiatischen Netzwerk, das sich mit dem Thema Müll und Müllbeseitigung im Kontext städtischer Armut und Entwicklung beschäftigt. In Bangalore arbeitet Rosario als selbständiger Partner eng zusammen mit der Hilfsorganisation Mythri Sarva Seva Samithi (MSSS), die sich in acht Slums von Bangalore für die schulischen, rechtlichen und medizinischen Belange von Kindern und Frauen engagiert, die im und vom Müll leben. »Wir versuchen mit unserer Arbeit zwei Übel zugleich zu bewältigen: Zum einen die prekäre Situation der Kinder und Frauen, zum anderen versuchen wir, aus der Not des Müllsammelns eine umweltpolitische und zugleich einkommensfördernde Tugend zu machen«, erklärt Rosario. »Wir tragen deshalb Ideen für ein besseres Müllmanagement in die Slums, beraten die wastepicker bei ihrer Arbeit, helfen die Arbeitsbedingungen zu verbessern und werben zugleich bei den Behörden um die Integration der informell arbeitenden wastepicker in ein gesamtstädtisches Abfallkonzept«, erklärt Rosario den Balanceakt von Waste Wise und MSSS.Solche Ideen allein reichen natürlich nicht. Wichtig sind Bildung und Aufklärung. Auf dem Weg von der Cement Colony zu einem der zwölf »entrypoints« (Schulzentren), die MSSS und andere Hilfswerke in Bangalore betreiben, erläutert uns der 36jährige Anthony Bosco, ein gläubiger Katholik, die Arbeit: »Wir bieten den zumeist sehr jungen Müttern an, ihre Kleinkinder bei uns in den Kindergarten zu geben. Und wir unterhalten Klassen, wo Kinder, die nie zur Schule gingen oder früh die Schule verlassen mußten, rechnen, schreiben und lesen lernen und schließlich geben wir Ausbildungskurse im Nähen und Spinnen.«Dabei heißt es für Bosco und seine 20 Mitarbeiter an jedem neuen Tag gegen den Abgrund zu kämpfen. »In diesen Über-Lebenszusammenhängen helfen jedoch nur Bildung, Wissen, berufliche und handwerkliche Kenntnisse. Nur diese Dinge können den Kindern helfen, jemals aus dieser Malaise zu entkommen«, weiß Bosco um die verhängnisvollen Mängel, die vor allem die Frauen zu ertragen haben. Sie sind es, die aufgrund fehlender sexueller Aufklärung und rigider Familienpolitik früh schwanger werden und ohne Empfängnisverhütung nicht selten bis zu sechs, sieben Kinder haben.Samithra Logesh organisiert bei MSSS die Mobilisierung der Frauen in den Slums. Sie unterrichtet über Safer Sex, moderiert Sitzungen von Frauen-Clubs, referiert über gesunde Ernährung und hilft Frauen in familiären Notsituationen, zum Beispiel der 26jährigen Sagaya Mary, die nach vier Kindern schon wieder schwanger ist, weil ihre Schwiegermutter und ihr Mann nicht möchten, daß sie sich sterilisiert. »Small Family is a happy Family«, die Botschaft einer im Tagungsraum des Frauen-Clubs hängenden Tafel, wirkt angesichts dessen fast grotesk.Dabei werden die Probleme nicht geringer, denn der Strom der Migranten in die Boomtown Bangalore reißt nicht ab. Vor allem aus dem südlichen Bundesstaat Tamil Nadu ziehen wöchentlich Tausende in die Stadt, alle auf der verzweifelten Suche nach Jobs. Einige vielleicht auch mit der vagen Hoffnung, die Armut aus eigener Kraft zu überwinden. »In der Tat gibt es immer wieder Einzelfälle, daß Leute mit Müllsuche und Tagelohnarbeit anfingen und jetzt in kleinen Familienhäusern wohnen«, sagt Bosco. Die meisten aber verharren in provisorischen Unterkünften, sterben an Mangelernährung und Infektionen. Menschen, die irgendwann tot im Müll liegen.Stadt, Armut und Reichtum wachsen aber weiter. Und damit auch der Müll, der gigantische Ausmaße annimmt, so daß die Stadtverwaltung schon heute nicht mehr Herr der Lage ist und die Hälfte des Stadthaushalts in die Müllabfuhr fließt. Neben den 25.000 wastepickern sind 6.000 Müllarbeiter bei der Stadt angestellt. Sie transportieren täglich mit rund 250 Lastwagen den Müll aus der Stadt heraus. So sind außerhalb gewaltige Deponien entstanden, wo von der Autobatterie bis zu Medikamenten alles eingelagert wird. Eine tickende Zeitbombe wissen alle Beteiligten, sind doch die Untergründe solcher Deponien in keinster Weise versiegelt. Kein Wunder also, daß die Stadt eine Besichtigung strikt untersagt.»Es gibt dringenden Handlungsbedarf«, mahnt Anselm Rosario. »Wir müssen jetzt in die Offensive gehen. Wir müssen Bewußtsein für diese Probleme entwickeln und das Dilemma in Zukunftschancen umkehren, an denen die wastepicker partizipieren könnten.« Ein besseres Müllmanagement, mehr Recycling, mehr rückstandsfreie Verbrennung, Mülltrennung und die präventive Entwicklung von umweltfreundlichem Verpackungsmaterial käme dabei auch den Ärmsten unter den Armen zugute. Rosario begreift die Müllbewältigung als »Negation der Negation«, als Entwicklungschance. »Es geht uns darum, die städtischen Verantwortlichen zu überzeugen, daß es auch für sie von Vorteil wäre, zusammen mit den wastepickern die Müllproblematik zu lösen«, erläutert Rosario und entrollt einen Stadtentwicklungsplan, in dem Kläranlagen, Müllsammelstellen, Abwasserkanäle und Grünanlagen eingezeichnet sind. »Hier geht es um die Erschließung eines Gebietes, das durch zwei Slums geht. Wenn wir zusammen mit Slumbewohnern und städtischer Verwaltung die Planungsidee durchsetzen, dann haben wir viele Abfallprobleme gelöst.«Vorausgesetzt, die Stadtoberen machen mit und erkennen, daß die wastepicker am Anfang finanziell und organisatorisch unterstützt werden müssen. Indes wächst die soziale Not simultan mit dem Müllberg. Viel Zeit für Entscheidungen bleibt nicht mehr, soll die vom Computer-Boom profitierende Stadt nicht vollends im Müll versinken. Sind Grünpläne und reguläre Einkommen der wastepicker auch noch Zukunftsmusik, Rosario, Bosco und ihre Mitstreiter geben jeden neuen Tag Mut, sich nicht vom Dreck fortspülen zu lassen.Weitere Artikel zu diesem Thema:Wolfgang MüllerWenn der PC in den Kühlschrank wandertHermannus PfeifferVor einer prall gefüllten PipelineRainer FischbachAbgesoffen
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