Im Tahrir-Kino

Im Gespräch Jasmina Metwaly vom ägyptischen Medienkollektiv Mosireen über Aufnahmen von der Straße für die Straße, Popsongs über die Macht des IWF und die Zukunft des Filmemachens
Ausgabe 16/2013
Im Tahrir-Kino

Der Freitag: Die Frage, welche Rolle bewegte Bilder spielen, ist für das Medienkollektiv Mosireen eine existenzielle. Sie steht am Anfang.

Jasmina Metwaly: Ohne die Dringlichkeit zu berichten, hätte es Mosireen nicht gegeben. Mosireen begann mit der Idee, eine Gruppe zu werden. Es fing mit dem Tahrir-Platz an. Der Platz war damals ein kollektiver Raum, in dem Körper zusammenkamen, um diesen flüssigen Körper des Widerstands zu schaffen. Einen Körper, in dem Leute verschiedene Dinge taten, und viele von ihnen nutzen soziale Medien. Sie dokumentierten die vor sich gehenden Kämpfe mit ihren Handys und Kameras.

Aber doch nicht, um es für die Nachwelt zu bewahren.

Zu der Zeit war vieles von dem, was aufgenommen wurde, im Augenblick der Aufnahme von Bedeutung. Es ging darum, der Welt zu zeigen, was passiert, das nicht im Fernsehen zu sehenist und zu dem Journalisten, die da mal kurz reinschneien für einen Bericht, keinen Zugang haben. Al Dschasira war auf das angewiesen, was die Leute auf der Straße aufnahmen. Aus diesem Grund sprechen manche Leute von einer Facebook-Revolution.

Worin unterscheidet sich denn Ihr Video über die Ausschreitungen vor dem Maspero-Hochhaus im Oktober 2011 von Journalismus?

Auch wenn wir Filmemacher, Schauspieler und Leute in unserer Gruppe hatten, die vorher schon Videos gemacht haben, mussten wir neue Wege finden, den Machthabern die Stirn zu bieten. Das ist bei dem Maspero-Massaker geschehen. Menschen wurden vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehens getötet. Die Armee gab ihre Erklärung im Fernsehen ab. Wie also sagen wir den Leuten, was wirklich passiert ist – dass es nicht so war, wie die Armee sagt? Das war das erste Mal, dass wir ein investigatives Video drehten. Stark daran war, dass wir verschiedene Quellen genutzt haben. Aufnahmen, die gepostet worden waren und Aufnahmen mit einer besseren Kamera. Durch die verschiedenen Aufnahmen wirkt das ganze echt, weil nicht nur die Perspektive eines einzelnen gezeigt wird, sondern der Film sich aus mindestens fünf verschiedenen Quellen zusammensetzt. Das ist die Herangehensweise, die Mosireen seit Ende 2011 verfolgt.

Damit die Bilder Wirkung entfalten können, müssen sie gesehen werden. Deshalb haben Sie Filme auf der Straße aufgeführt.

Um den öffentlichen Raum zu besetzen, ist körperliche Präsenz vonnöten, und im Fall des Tahrir-Kinos bedeutet es, Bilder zurück auf die Straße zu bringen. Die ersten Straßenvorführungen, die wir organisiert haben, fanden während des Sit-ins im Juli 2011 statt. Die meisten der Archiv-Aufnahmen, die dabei gezeigt wurden, waren Rohmaterial, das von Leuten aufgenommen worden war, die aktiv an den Aktionen auf der Straße teilgenommen hatten. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, was gerade erst passiert ist und wie alles begonnen hat. Und es ist wichtig, die „vorgegebenen“ Narrative, die das staatliche Fernsehen aufbietet, zu dekonstruieren oder vielmehr ein neues Narrativ zu finden. Vorführungen auf der Straße verbinden die cineastische Erfahrung mit dem Physischen. Diese Augenblicke der Besetzung führen zu Spannungen zwischen Zuschauer und dem Bild sowie dem Bild und der Realität, die einen kollektiven Diskurs darüber provozieren und die Leute dazu bringen, sich zu reorganisieren.

Wie würde ein Mosireen-Archiv, in dem all die Aufnahmen einzelner Bürger gesammelt sind, idealerweise aussehen?

Heute sehen wir es uns an und denken darüber nach, wie wir das, was wir haben, organisieren können. Da sind eine Menge Gigabytes, die geordnet und richtig beschriftet werden müssen, damit die Leute darauf zugreifen können. Uns ist es wichtig, unsere eigenen Vertriebskanäle besser zugänglich zu machen. Nur einige der Videos auf unserem Youtube-Kanal werden oft angesehen. Wir müssen die Leute dazu bringen, sie sich anzusehen – warum sollten wir sie sonst machen? Da solche Aufnahmen nicht besonders aufregend sind, denken wir darüber nach, wie sie aufregender zu machen sind.

Mit welchem Ergebnis?

Im Netz gibt es dieses berühmte Musikvideo des Sängers Yasser El Manawahly, in dem eine Familie in einem armen Viertel zu sehen ist. Nichts ist dokumentarisch. Ein Lied, mehrere Figuren: Vater, Mutter, Schwester, Bruder. Sie singen von Schulden. Der Text handelt zu populärer Musik vom Einfluss des Internationalen Währungsfonds auf unser Leben, weil die Leute keine Vorstellung davon haben, was IWF überhaupt ist. Die meisten Leute verstehen nicht, wie etwas, das einem so weit weg vorkommt, so nah ist. Das zeigt ihnen das Video.

Welche Rolle spielt bei Ihrer so gegenwärtigen Arbeit die Geschichte des Kinos?

Ich habe mit Philip Rizk zusammen an Filmen und Videos gearbeitet, die die Geschichten von Arbeitern erzählen. Sie können sie auf dem Mosireen-Kanal finden. Wir haben Filmnächte, wir lieben das Kino. Aber vielleicht bezieht sich Ihre Frage auf das Cinéma-militant-Kino: Ob wir diese Strategien wirklich bewusst anwenden? Wir sind mit den verschiedenen Strategien aus der Geschichte des Kinos vertraut. Auf die eine oder andere Art steckt das in jedem von uns, wenn wir über die Produktion von Bildern nachdenken. Ein investigatives Video zu machen, ist keine neue Strategie, Journalisten machen das ständig. Für uns ist es aber eine neue Strategie. Es ist anders als bei Nachrichtenagenturen, wo die Leute wissen, dass sie zwei Quellen brauchen, um ihr Video glaubwürdig zu machen. Der Gedanke ist nicht, etwas Journalistisches zu machen, sondern etwas, das konfrontieren kann.

Und wie stellt sich aus Ihrer Sicht die Zukunft des Kinos dar, die gerade vor dem Hintergrund der digitalen Revolution diskutiert wird?

Es ist wichtig, mit anderen Leuten zu teilen, die filmen oder lernen wollen, wie man Videos macht. Die Dinge sind momentan ziemlich dezentralisiert. Vieles passiert außerhalb von Kairo. Es ist wichtig, diese Leute zu befähigen. Wir haben etwa einen Workshop außerhalb von Kairo gemacht, wie ein Hamedi, in Oberägypten. Wir trafen eine Gruppe von Leuten, von denen einige als Journalisten für eine Lokalzeitung arbeiten. Es gibt dort eine Gruppe von Arbeitern, die den Eingang zur Stadtversammlung versperrt haben und fordern, fest angestellt zu werden. Anderen Leuten etwas beibringen und mit ihnen teilen – und ich möchte nicht wie eine Mentorin klingen. Wir alle lernen voneinander.

Kino wäre für Sie zuerst der soziale Gedanke, dass Leute befähigt werden, sich Bilder von ihrer Umwelt machen?

Die Idee besteht darin, anderen einen Teil unserer Erfahrungen und Fähigkeiten zu vermitteln, sodass sie die Arbeit selbst machen können. Es geht nicht darum, Mosireen zum Medienzentrum Nummer eins zu machen. Die Leute können Teil des Mosireen-Netzwerks werden, wenn sie die gleiche Politik vertreten. Wir sind nicht objektiv. Wir verfolgen einen Zweck. Es geht uns nicht darum, zahlenmäßig zu wachsen, sondern darum, Know-how mit anderen zu teilen, damit sie ihre eigenen Netzwerke schaffen können.

Das Gespräch führte Vera Tollmann

Gekürzte und bearbeitete Fassung eines Interviews, das im Rahmen von The Future of Cinema entstanden ist, einem audiovisuellen Online-Projekt in sieben Teilen, kuratiert von Vera Tollmann und Shama Khanna für die Kurzfilmtage Oberhausen und Arte. Zu sehen sind die Clips ab 25. April auf creative.arte.tv und ab 2. Mai auf dem Festival in Oberhausen. El Manawahlys IWF-Lied findet sich hier. Das Gespräch führte Vera Tollmann.

Jasmina Metwaly , geb. 1982 in Polen, aufgewachsen in Warschau, ist Künstlerin und Video-Aktivistin. 2009 zog sie nach Kairo. Seit Februar 2011 arbeitet Metwaly mit dem Social-Media-Kollektiv Mosireen zusammen, um die anhaltenden Bürgerunruhen in Ägypten zu dokumentieren.

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