In einem Vorortzug saßen die beiden nebeneinander am Ende einer langen Sitzreihe. Durch das Fenster schien die spätherbstliche Sonne herein und ihr bernsteinfarbenes Licht strahlte auf alle, die sich an diesem Nachmittag in dem gut gepflegten, cremefarbenen Wagen durchschaukeln ließen.
Der Zug war weder voll noch leer. Niemand musste stehen. Alle hatten auf einer der zwei langen, einander gegenüberliegenden Sitzreihen Platz gefunden. Die leicht geheizte Luft war angenehm warm. Die Ladenschilder und Hochhäuser, die am Fenster vorüberzogen, wurden immer weniger. Man hörte seltener andere Züge oder Ansagen draußen vorbeirauschen. Die Abstände zwischen den Stationen wurden allmählich länger. Es gab immer weniger Leute, die redeten. Ein
deten. Einige schliefen, sogar fest. Andere waren mit einem Buch oder einer Zeitung in der Hand eingenickt. Alle saßen mehr oder weniger schläfrig da, als schwebe ein Schlafmittel in der Luft.Auch sie hatte ihre schläfrigen Augen halb geschlossen."Es ist so angenehm. Ich will für immer weiterfahren..."Sie lehnte sich an seine Schulter und schaute nach draußen auf die weiß verputzten Einzelhäuser, die aussahen, als wären sie nach dem Muster der Gebäude im Disneyland gebaut worden. Zwischen den Häusern gab es noch leere Plätze mit planiertem Boden, die auf neue Häuser zu warten schienen.In der Wärme seiner Schulter schloss sie ihre Augen."Weißt du, ich habe ein Geheimnis...", flüsterte sie in seine Richtung."Ich wollte es dir eigentlich erst viel später verraten, aber jetzt habe ich Lust, davon zu erzählen."Sie schwieg einen Moment und lächelte. "Du glaubst, dass wir uns kennengelernt haben, weil ich zufällig in einem Bus neben dir gesessen und dort meinen Kalender vergessen hatte. Aber das war in Wirklichkeit kein Zufall. Du warst mir schon drei Wochen zuvor aufgefallen. Es regnete heftig an jenem Abend. Ich saß im Bus. Ich schaute aus dem Fenster, dachte endlos an dies und das. Der Bus hielt vor einer Ampel. Und da sah ich dich. Du gingst im Regen auf der Straße. Ich spürte etwas, stieg sofort aus dem Bus und folgte dir. Du gingst in eine Buchhandlung. Ich ging auch hinein. Und nach einer kurzen Weile habe ich dich hinter der Kasse entdeckt. Ich schaute dich an, irgendein Buch in der Hand haltend, das ich gar nicht las. Seitdem ging ich immer wieder dorthin. Ich tat jedesmal so, als ob ich nach einem bestimmten Buch suchte und wartete darauf, von dir angesprochen zu werden. Aber wenn du kamst, wusste ich oft nicht, wie das Buch hieß. Du musstest oft sehr lange überlegen, wonach ich suchte...Aber allmählich wollte ich mehr. Eines Abends wartete ich vor dem Laden auf dich, stieg nach dir in den Bus und setzte mich neben dich. Du sahst aus dem Fenster. Ich wagte es nicht, dich anzusprechen. Da kam ich auf die Idee, meinen Kalender auf dem Platz neben dir liegen zu lassen - in der Hoffnung, dass du ihn finden und dich bei mir melden würdest. Der Kalender war sehr wichtig für mich. Trotzdem tat ich es, weil ich von dir angerufen werden wollte. Und du hast es tatsächlich getan... Bist du böse, dass ich dir alles vorgespielt habe?"Mit noch immer geschlossenen Augen flüsterte sie an seiner Seite."Nein", hörte sie seine Stimme. "Ich bin ja glücklich, mit dir zusammen zu sein."Sie lächelte und lehnte sich noch fester an seine Schulter. In diesem Moment spürte sie eine Erschütterung. Sie riss ihre Augen auf."Entschuldigung, ich muss aussteigen." Ein fremder Mann schaute sie verlegen an. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich an seine Schulter gelehnt hatte."T...tut mir leid." Sie richtete ihren Körper auf und sah noch, wie der Mann verschwand. "Wo ist er bloß...?" Sie stand auf, schaute von einem Ende des Wagens zum anderen. Aber er war nirgends zu sehen. Sie ging in den anderen Wagen und suchte nach ihm. Aber sie fand ihn nicht. Plötzlich bekam sie schreckliche Angst und blieb wie versteinert mitten im Zug stehen."Vielleicht ... bin ich allein im Zug? Und habe nur von dir geträumt? Ich war allein in den Zug gestiegen. Ich war allein in den Bahnhof gekommen. Ich war allein im Kino, ich war allein im Café. Ich war allein zu Hause, enttäuscht und traurig, weil du nicht angerufen hattest, obschon ich tagelang gewartet hatte. Du hast mich nicht angerufen. Meinen Kalender habe ich niemals wieder bekommen. Vielleicht war es so. In Wirklichkeit war es so ... "Sie atmete heftig. Ihre Hände waren eiskalt, als sie ihre Tasche öffnete und nach etwas tastete."Nein ..." Sie hielt einen kleinen Kalender in ihrer Hand."In Wirklichkeit hatte ich meinen Kalender gar nicht im Bus liegen lassen. Ich hatte mich nicht neben dich gesetzt. Ich war nicht in denselben Bus gestiegen. Ich hatte nicht auf dich gewartet. Ich war nicht in den Laden hineingegangen. Denn ich ... denn ich hatte an dem Abend im Regen gesehen, wie du dich vor dem Laden mit einer Frau getroffen hattest, wie du sie geküsst hast und mit ihr zusammen weggegangen bist ... Ja, so war es in Wirklichkeit."Mitten im schaukelnden Wagen des Vorortzuges, in dem inzwischen alle fest schliefen, war sie allein mit ihrem Entsetzen. Sie spürte kein Körpergewicht mehr. Sie fühlte sich, als schwebe sie ohne Füße in der Luft des Zuges."Ja, so war es in Wirklichkeit. Alles andere habe ich bloß geträumt ...", flüsterte sie wie im Wahn, als plötzlich jemand ihre Schulter berührte.Sie fuhr herum und starrte die Person hinter sich an."Du bist hier? Wo warst du die ganze Zeit? Was hast du so lange gemacht ...?""Ich war nur kurz auf dem Klo. Ich hab´s dir doch gesagt, als ich ging. Hast du das etwa nicht gehört? Aber wieso guckst du mich denn so komisch an? Ich war nur fünf Minuten weg und du guckst mich an wie einen Fremden. Was ist los mit dir?"Sie fiel ihm um den Hals und sog tief seinen Geruch ein.Miyuki Tsuji wurde 1968 in Osaka geboren. Nach einem Slavistik-Studium in Tokio reiste sie die Seidenstraße entlang bis nach Europa und ließ sich in Hamburg nieder. Sie schreibt Kurzgeschichten, Texte für Comics und Reiseessays. Im März erschien ihr Buch Wiedersehen mit Osaka im Wiesenburg Verlag.