Im Zweifel gegen den Angeklagten

Milosevic-Prozess Die Verteidigung hat erst 20 ihrer 118 Zeugen aufgerufen - das Gericht und die Anklagevertretung sprechen schon jetzt von Zeitverschwendung

Die dreimonatige Bombardierung Jugoslawiens im Frühjahr 1999 könnte doch noch eine strafrechtliche Relevanz im Prozess des Jahrhunderts gegen Slobodan Milosevic erlangen. Sollte nämlich der Angeklagte beweisen können, dass die NATO-Angriffe auf die Provinz Kosovo die Massenflucht der Kosovo-Albaner entscheidend verursacht haben, wäre das für seine Verteidigung wichtig, meint Patrick Robinson, der Vorsitzende Richter des Haager Tribunals, am 24. Februar 2005. Die strafrechtliche Relevanz ergebe sich daraus, dass von der Anklage die Flucht der Albaner als Folge ihrer gewaltsamen Vertreibung durch die serbischen Armee gesehen werde.

Auch in einer anderer Hinsicht könnten die Operationen der NATO für den Prozess Bedeutung haben, glaubt der Richter. Milosevic habe erwähnt, dass "manche Einsätze der serbischen Armee als Reaktion auf die NATO-Angriffe" hätten erfolgen müssen, das hieße, diese Handlungen ließen sich im Sinne legitimer Selbstverteidigung rechtfertigen. Dennoch, der Angeklagte möge daran denken, es stehe hier nicht die NATO vor Gericht. Alle Versuche, die NATO anzuklagen, seien einfach Zeitverschwendung. Manche Beobachter sprechen nach dieser Erklärung des Richters von einem "Tabubruch", denn üblicherweise wird dem Angeklagten das Mikrophon sofort abgeschaltet, sobald er das Thema "Die NATO und der Kosovo-Krieg" berührt.

Kann es sein, dass der Zeuge Vukasin Andric das Gericht zu dieser jähen Lockerung der Regeln bewogen hat? Der Arzt, im Frühjahr 1999 Staatssekretär für Gesundheitswesen im Kosovo, hat erschütternde Video-Dokumente vorgeführt, die beweisen sollen, dass die intensive Bombardierung der Provinz Hauptursache für die Massenflucht war - und zwar nicht nur der Albaner, sondern aller Bevölkerungsgruppen.

Ein semantischer Trick

Seit November 2004 hat Slobodan Milosevic in bisher 30 Verhandlungstagen etwa 20 Zeugen präsentiert, um vom Gericht immer wieder hören zu müssen, der betreffende Zeuge sei irrelevant, dessen Befragung nur Zeitverschwendung. Mehrere Zeugen äußerten sich etwa zu der Frage, ob es sich bei den Entwicklungen 1990/91 um eine Desintegration Jugoslawiens oder nicht vielmehr um eine gewaltsame und illegale Sezession handelte, die von einigen westlichen Ländern unterstützt wurde. Dieses Thema finden die Richter ebenso irrelevant wie die Frage, ob die ersten Schießereien damals auf das Konto der sezessionistischen Kräfte gingen, weil diese vorsätzlich einen Bürgerkrieg provozieren wollten.

Am 14. Februar wird dies alles dem britischen Richter Ian Bonomy zuviel. Es bereite ihm große Sorgen, wie der Angeklagte mit seiner Zeit umgehe. Es sei doch schließlich egal, wer begonnen habe, das führe an den Fragen vorbei, mit denen man sich hier beschäftige. Und der Vorsitzende Richter, Patrick Robinson, sekundiert: Milosevic drehe sich im Kreis und verschwende nicht nur seine Zeit, sondern auch die des Tribunals.

Vor einem halben Jahr noch hatte der gleiche Richter erklärt, Milosevic sei aus Gesundheitsgründen nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen, er müsse daher die ihm vom Gericht zugeordneten Pflichtverteidiger akzeptieren. Eine Maßnahme, die bald darauf vom Appellationsgericht revidiert werden muss. Nun lautet die Botschaft des Vorsitzenden Richters, Milosevic sei unfähig und verstehe es nicht, sich selbst zu verteidigen. Dieser Vorwurf ist besonders dann beliebt, wird das Thema "Groß-Serbien" berührt.

Die Anklage hatte vor Monaten mit ihren Zeugen eine ganze Phalanx von Politikern und Sachverständigen auftreten lassen, die dem Angeklagten eine serbisch-nationalistische beziehungsweise groß-serbische Gesinnung nachsagten und "Groß-Serbien" als das entscheidende Ziel seiner Politik bezeichneten. Allerdings sahen sich alle außerstande, auch nur eine groß-serbische Verlautbarung des Angeklagten zu zitieren, geschweige denn eine solche Ausrichtung seiner Politik mit Dokumenten zu belegen. Ungeachtet dessen gehörte "das Streben nach Groß-Serbien" als strategisches Motiv des Angeklagten weiterhin zum Kern der Anklage - bis zum 15. Dezember 2004.

An diesem Tag erklärt Ankläger Geoffrey Nice völlig überraschend, er wolle vom Ausdruck "Groß-Serbien" Abstand nehmen, zumal ihn der Angeklagte so auch nicht verwendet habe. Nice hat offenbar begriffen, was die Zeugen der Verteidigung während der vergangenen Wochen in ihrer "Zeitverschwendung" mit diesem Punkt der Anklage angerichtet haben. Ob er denn meine, dies sei kein wichtiger Punkt der Anklage mehr, fragt Richter Robinson vorsichtig, der freilich weiß, was alles mit der Antwort auf diese Frage zusammenhängt. Auch der Angeklagte Milosevic weiß es: "Mister Robinson", sagt er, "bitte denken Sie daran, dass eines der wichtigsten Argumente dieser verlogenen Anklage lautet: kriminelle Vereinigung zur Erschaffung von Groß-Serbien. Diese Absurdität muss geklärt und entlarvt werden."

Also wird ein semantischer Trick bemüht: "Not at all", antwortet Ankläger Nice auf die Frage des Richters, man bleibe dabei, nur werde man statt des Begriffs "Groß-Serbien" nun den Ausdruck "alle Serben in einem Staat" verwenden. Mit anderen Worten, wenn Milosevic schon kein "Groß-Serbien" als politisches Ziel nachgewiesen werden kann, ersetzt man es durch den Vorwurf, er habe "alle Serben in einem Staat" sehen wollen, was das auch immer bedeuten mag. Diese Formulierung lässt sich im Vokabular des Angeklagten nachweisen. Nur meinte er mit diesem Staat immer eindeutig Jugoslawien. Da lebten "alle Serben in einem Staat".

Beweisstück Nr. 786

Am 17. November 2004 erklärt der Philosophieprofessor Mihajlo Markovic dem Gericht das Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaft und der Künste von 1986, dessen Mitautor er war. Ankläger Nice bewertet dieses Dokument als "Paukenschlag" des großserbischen Nationalismus und behauptet, Milosevic habe es für seine Zwecke instrumentalisiert. Ob dem Zeugen die Zeitschrift Epoha vertraut sei, will Nice im Kreuzverhör wissen. Der Zeuge ist sich nicht ganz sicher, er könne sich vage an ein Blatt Epoha erinnern, das irgendwann die Sozialistische Partei Serbiens herausgegeben habe. Die Partei des Angeklagten, nicht wahr?, bohrt Nice und überreicht dem betagten Professor zwei Blätter: Sorry, es gebe leider nur diese Kopien. Sie seien aus der Nummer vom 22. Oktober 1991, der Zeuge solle sich bitte die Landkarte auf dem zweiten Blatt genau ansehen. Das sei doch die Linie Virovitica-Karlobag, nicht wahr? Und das sei doch die Karte Großserbiens? Und der Titel! Was sage der Zeuge zum Titel? Der lautet: Wie wollen wir die neuen Grenzen ziehen? Wünschenswerte Möglichkeiten territorialer Demarkation zwischen Jugoslawien und Kroatien.

Finde der Zeuge nicht, dass hier, im Parteiblatt des Angeklagten, der Anspruch auf Großserbien erhoben werde? Kann der Zeuge bestätigen, dass dieser Plan und diese Grenzen in der Partei des Angeklagten Unterstützung fanden? - Der Professor sieht ratlos auf die beiden Blätter, hat er doch zuvor als Zeuge der Verteidigung zu belegen versucht, dass ein Großserbien nie zu den Wertvorstellungen des Angeklagten und seiner Partei gehört habe.

Nun meldet sich auch der Angeklagte. Es handle sich um ein Missverständnis, sagt er. Serbische Zeitschriften hätten zu diesem Zeitpunkt alle möglichen Landkarten gebracht. Überall seien Artikel über Jugoslawien und auch Landkarten gedruckt worden. Ankläger Nice lächelt zufrieden und lässt die zwei Blätter als Beweisstück aufnehmen. Sie sind fortan "Beweisstück Nr. 786".

Wenig später allerdings, an besagtem 15. Dezember 2004, erklärt der Historiker Cedomir Popov als Zeuge der Verteidigung, dass "Groß-Serbien" ein im 19. Jahrhundert vom Habsburger Reich inszenierter Mythos gewesen sei. Man habe ihn geschaffen, um den eigenen territorialen Expansionsdrang zu verschleiern.

Ob sich der Zeuge "Beweisstück Nr. 786" ansehen wolle, es komme aus der Zeitschrift Epoha, fragt Geoffrey Nice. Eine Publikation der Partei des Angeklagten, nicht wahr? Der Professor möge sich die Landkarte ansehen. Die Linie Karlobag-Karlovac-Virovitica, nicht wahr!? Das sei doch Großserbien! Und der Titel: Wie wollen wir - bitte schön, er wiederholt: wir - wie wollen wir die neuen Grenzen ziehen? Das sei doch ein Aufruf zu Groß-Serbien.

Der Zeuge will das nicht bestätigen, diese Zeitschrift sei kein Blatt der Sozialistischen Partei gewesen. Außerdem besage diese Karte noch gar nichts, man habe sich damals alle möglichen Karten um die Ohren geschlagen.

Der Zeuge solle antworten, ob dieses Dokument einen Anspruch auf Groß-Serbien beinhalte, verlangt nun auch Richter Robinson streng. Ob er auch etwas sagen dürfe, meldet sich der Angeklagte. Es sei schließlich egal, wer Epoha herausgegeben habe. Wichtig sei, was im Artikel konkret gesagt werde. Und das wolle er nun vorlesen. Der Angeklagte holt eine Zeitschrift aus seiner Mappe, der Autor des bewussten Artikels lehne nämlich diese großserbischen Grenzen ab, sagt der Angeklagte. Anderthalb Millionen Kroaten würden dann Serbien angehören, und das brauche Serbien nicht. Man müsse den Text lesen und nicht nur auf den Titel und die Karte starren, doziert der Angeklagte weiter.

Ob es sich um "Beweisstück Nr. 786" handle, will Richter Robinson wissen. Der Angeklagte bestätigt, es handle sich genau um dieses Beweisstück, um die Zeitschrift Epoha vom 22. Oktober 1991. Ferner stehe in besagtem Artikel, junge Serben sollten im Geist der Toleranz und Gleichberechtigung erzogen werden. Man müsse jeden Nationalismus bekämpfen, in die Zukunft schauen und so weiter. Milosevic hebt die Zeitschrift hoch und fährt fort: Es sei hier eine Karte abgebildet, die im Text verworfen werde. Der Ankläger präsentiere diese Karte nun schon zum dritten Mal so, als werde sie im Text verherrlicht, das sei doch die reinste Manipulation.

Jetzt ist der Vorsitzende Richter richtig böse. Allerdings nicht auf den Ankläger, sondern auf den Angeklagten. Es sei absolut unakzeptabel, dem Ankläger vorzuwerfen, er habe etwas zur Manipulation präsentiert. Der Angeklagte sei mehrfach vor solchen Ausdrücken gewarnt worden, fügt Robinson verärgert hinzu und kann nicht verhehlen, wie ungehalten er darüber ist, dass der Angeklagte die Manipulation des Anklägers hat auffliegen lassen.

Briefträger bei der UNO

Am 16. Februar ruft der Angeklagte den Zeugen Vladislav Jovanovic zur Befragung, um einige Dokumente über die Opfer der NATO-Luftschläge von 1999 als Beweisstück aufnehmen zu lassen. Der Zeuge sei zu dieser Zeit Botschafter Jugoslawiens bei den Vereinten Nationen gewesen und habe diese Papiere seiner Regierung in Empfang genommen, um sie den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats zu überreichen. Es ist die übliche Prozedur zur Annahme von Beweisstücken. Doch Richter Bonomy ist nicht einverstanden: Der Zeuge habe mit diesen Dokumenten nichts zu tun, er sei doch nur ein "Briefträger bei der UNO" gewesen. Nicht wahr, Mister Jovanovic?

Vladislav Jovanovic, der ehemalige Außenminister Jugoslawiens, nimmt es gelassen, schließlich ist er 40 Jahre lang Berufsdiplomat gewesen. Nein, er finde nicht, dass er Briefträger war. Er sei Botschafter eines souveränen Staates gewesen und habe die betreffenden Dokumente seinen Kollegen im Sicherheitsrat auch erläutern müssen. Ein Botschafter-Briefträger also, setzt Richter Robinson erheitert noch eins drauf - und alle lachen herzlich.

Die gelöste Stimmung vergeht allerdings, als der Angeklagte erklärt, er werde dann wohl jedes Dokument einzeln als Beweisstück aufnehmen und den Verfasser eines jeden Dokuments - ob Untersuchungsrichter, Polizist oder Gerichtsmediziner - als Zeuge kommen lassen. Es handle sich um etwa 1.000 Dokumente, das werde Zeit in Anspruch nehmen. Denn offenbar seien vor diesem Gericht die Formalitäten wichtig, nicht aber die Wahrheit über die Kriegsverbrechen der NATO.

Das hätte er nicht sagen sollen. Hier stehe nicht die internationale Gemeinschaft vor Gericht, widerspricht scharf Ankläger Nice. Auch Richter Robinson wird es zuviel. Dieses blödsinnige Gehabe des Angeklagten, sagt er, lasse er sich nicht weiter gefallen. Milosevic benehme sich wie ein verwöhntes Kind, unzumutbar für ein Forum wie dieses, sagt Richter Bonomy. Ankläger Nice hat einen Vorschlag: da es dem Angeklagten egal sei, ob seine Missachtung des Gerichts Folgen habe, sollte ihm das Gericht die Zeit kürzen, die ihm zur Verteidigung zustehe. Auch die Richter sind tief besorgt, wie der Angeklagte seine Zeit nutzt, man werde bald zu einer Entscheidung kommen, verkündet feierlich Patrick Robinson.

Es hat gerade erst der 20. Zeuge der Verteidigung ausgesagt, und die Nerven liegen blank. Wie soll es beim 118. werden?


Personaltableau des Milosevic-Tribunals

Richter:
Patrick Robinson (Jamaika)
Ian Bonomy (Schottland)
O-Gon Kwon (Südkorea)

Ankläger:
Carla Del Ponte (Schweiz)
Geoffrey Nice (England)

Pflichtverteidiger:
Steven Kay (England)
Gillian Higgins (England)


Milosevic in Den Haag

1. April 2001 - der Ex-Präsident wird in Belgrad verhaftet, um ihm - wie es zunächst heißt - in Serbien den Prozess wegen Korruption und Machtmissbrauchs zu machen.

6. April 2001 - ein Gesandter des Haager Tribunals übergibt den serbischen Behörden einen Haftbefehl für Milosevic. Kurz darauf setzt das Belgrader Verfassungsgericht das Regierungsdekret zur Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher außer Kraft.

28. Juni 2001 - Premier Djindijic ignoriert die Direktive des Gerichts - Milosevic wird nach Den Haag gebracht.

3. Juli 2001 - erste Anhörung vor dem Tribunal, bei der Milosevic das Gericht als "illegal" bezeichnet.

12. Februar 2002 - Eröffnung des Prozesses mit der Verlesung der Anklageschrift, in der Milosevic Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Kroatien, Bosnien und im Kosovo vorgeworfen werden.

3. Mai 2002 - Kosovo-Präsident Ibrahim Rugova, sagt aus und wirft Milosevic vor, für die gewaltsame Vertreibung von 600.000 Albanern 1998/99 verantwortlich zu sein.

9. September 2004 - Beginn der Zeugenbefragung durch die Verteidigung. Milosevic wird das Recht auf die bis dahin praktizierte Verteidigung in eigener Sache aberkannt, er muss Pflichtverteidiger akzeptieren. Anfang November hebt das Haager Appellationsgericht diese Entscheidung wieder auf.


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