Immer engere Räume

KULTURTHEORIE Der amerikanische Literaturwissenschaftler Frederic Jameson über die Kulturalisierung der Welt und fehlende Orte für kritische Intellektuelle

Fredric Jameson (*1934) ist Direktor des Zentrums für Kritische Theorie an der Duke-University (USA) und weltweit einer der bekanntesten lebenden marxistischen Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker. In den sechziger Jahren trat er mit einer Analyse von Jean-Paul Sartres Werk hervor. Danach folgte der Band "Marxism and Form". Zu seinen Standardwerken gehört auch der Band: "Postmodernism or The Logic of Late Capitalism". Jameson, dessen wissenschaftliches Werk von der Literatur über die Pop-Kultur bis hin zur Architektur reicht, gilt als einer der treibenden Kräfte bei der Umwandlung der kanonischen Literaturwissenschaft hin zu den Cultural Studies.

FREITAG: Worin sehen Sie die Aufgabe von Kulturwissenschaft heute?

FREDERIC JAMESON: Die Einzigartigkeit der gegenwärtigen Situation, die ich als Postmoderne bezeichne, besteht in der ernormen Ausbreitung, die die Kultur erfahren hat. Im Zeitalter der Moderne, etwa bis zum Zweiten Weltkrieg, war die Gesellschaft relativ arm an Kultur. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben war noch nicht so universell verbreitet wie heute in den meisten Ländern oder zumindest in deren oberen Schichten, und kulturelle Güter waren unzugänglicher. Aber inzwischen hat die Kultur alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen. Die Aufgaben literatur- und kulturwissenschaftlicher Analyse haben sich daher verstärkt und ihre Richtung verändert. Es ist heute unmöglich, eine angemessene sozialwissenschaftliche Analyse der Phänomene um uns herum vorzunehmen, ohne zu verstehen, dass diese zutiefst von Kultur getränkt sind.

Es scheint mir, dass zumindest hierzulande nach wie vor große Resistenz besteht gegenüber einer Sichtweise, die Literatur als Teil gesellschaftlicher Praxis begreift. Ist das in den USA ähnlich?

Nun, ich stieß insbesondere in Deutschland immer wieder mit dem Begriff der Postmoderne auf Widerstand. Und ich glaube, das liegt daran, dass Ihre Gesellschaft - zumindest die westdeutsche Gesellschaft, denn der Osten hat jetzt ganz andere wirtschaftliche Probleme - in einem positiven Sinne in der Lage war, relativ traditionell zu bleiben. Daher gibt es hier noch eine traditionellere Erfahrung von Kunst und literarischer Ästhetik als in den USA, wo die Massenkultur überall präsent ist. Sicherlich gibt es auch in den USA aus verschiedenen Richtungen Widerstände gegenüber den Cultural Studies. Die eine kommt von Seiten sehr traditioneller Literaturwissenschaftler; ich denke, das ist eine historisch reaktionäre Erscheinung. Dann gibt es politische Einwände, weil Cultural Studies mit identity politics, mit den neuen sozialen Bewegungen assoziiert werden. Beide Vorbehalte überlagern sich in der konservativen Sichtweise, dass es politisch engagierte Leute aus den Sechzigern seien, die die Literatur zerstört und korrumpiert hätten. Diese Ablehnung geht Hand in Hand mit der Kritik, die Familie sei zerstört worden, es gebe Abtreibung und Gottlosigkeit und so weiter. Aber die Arbeit all der jungen, interessanten Geisteswissenschaftler, die offen für neue Methoden und geschult im Umgang mit Theorie sind, lässt sich in weiten Teilen als Cultural Studies begreifen. Ich denke es ist für Europäer sehr wichtig zu verstehen, dass "Cultural Studies" eine sehr weite Kategorie zur Bezeichnung ganz unterschiedlicher Dinge ist. Die Annahme, es handle sich um eine homogene Bewegung, ist falsch. So gibt es zum Beispiel Versuche, die Literatur- und Kulturgeschichte aus der Perspektive neuer historiographischer Methoden neu zu sichten. In anderen Fällen wird die Funktion der neuen Medien, also Fernsehen oder Video Art untersucht. Es passiert sehr viel, so dass wir sicherlich nie wieder zur traditionellen Literaturwissenschaft älteren Stils zurückkehren, sondern Texte auf neue Weise lesen werden.

Ihnen zufolge hat der Kapitalismus in der Postmoderne sämtliche Bereiche des Lebens und Denkens so durchdrungen, dass es überhaupt keinen Ort mehr gibt, von dem aus Ideologiekritik formuliert werden könnte. Ist nicht Ihr ganzes Denken und Schreiben ein Gegenbeleg?

Ich beschreibe eine Tendenz. Ich bin mir nicht einmal sicher, welchen kritischen Wert meine eigene Arbeit hat. Ich folge der Tradition der Frankfurter Schule. Es ist eine Tendenz der europäischen Philosophie, die immer sehr kritisch war, dass sie derzeit durch den Positivismus und den Empirismus abgelöst wird. Die gesamte Privatisierung drängt uns in immer engere Räume, die auch sozial abstrakt sind. Die Universität ist ein abstrakter Raum, wo wir von unserer Klasse und unserer Gesellschaft getrennt sind. Wenn wir also nachdenken über einen Ort, von dem aus wir sprechen könnten, so stellen wir fest, dass unserer in Gefahr ist. Wir haben keine radikalen Parteien, die normalerweise ein Ort für kritische Intellektuelle sind, so wie in verschiedenen Ländern Europas zu verschiedenen Zeiten. Ich glaube aber nicht, dass es gar kein kritisches Denken gibt. Der neue Kapitalismus hat zu noch viel größeren Unterschieden zwischen Reichen und Armen geführt, und so entwickeln sich neue Bewegungen der Kritik und Negativität. Doch das Problem von Intellektuellen ist immer die Trennung zwischen den Bewegungen der Unterdrückten und ihrem eigenen Raum. Und besonders in den Medien, wo ja viele Intellektuelle und Künstler publizieren, besteht immer weniger die Möglichkeit zur Kritik und immer mehr die Tendenz, sich den herrschenden politischen Linien anzuschließen, was häufig in Propaganda mündet.

Sie haben darauf insistiert, dass Postmoderne eine historische Kategorie ist. Welches sind Ihres Erachtens die wichtigsten Entwicklungen innerhalb der Postmoderne in den letzten zehn, zwanzig Jahren?

Die Technologien der Moderne waren Schwerindustrie, Elektrizität, Autos, Flugzeuge. Diese Industrien befinden sich in der Krise und werden durch neue ersetzt, die auf Kybernetik, biologischer Forschung und, bis zu einem gewissen Grad, auf Atomkraft beruhen. Die Kultur der Moderne hatte eine symbolische Beziehung zu den Innovationen der großindustriellen Ära, und ich denke, die Postmoderne hat eine symbolische Beziehung zur Informationstechnologie. Dies scheinen mir offensichtliche Veränderungen zu sein, und niemand leugnet es. Industrie und Landwirtschaft, Unternehmensorganisation sowie die gesamte Gesellschaft basieren in zunehmendem Maße auf Computernetzwerken. Das ist nur einer der Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne. Ich habe eben die immense Expansion von Kultur erwähnt, die in der Postmoderne eine ganz andere Rolle spielt als in der Moderne. Die Tatsache, dass wir jeden Tag von den verschiedensten Bildern bombardiert werden, bedeutet, dass wir in einem von Bildern saturierten Raum leben, was einen großen Unterschied zum Zeitalter der Moderne darstellt. Gleichwohl besteht die Kontinuität, dass sich all dies innerhalb des Kapitalismus abspielt. Es sind Stadien des Kapitalismus, und der funktioniert genauso wie Marx es beschrieb, Profitakkumulation und so weiter. Die Neuheit mag in der hochentwickelten Struktur des Finanzkapitals liegen, die natürlich auch an die Computertechnologie gebunden ist: die Distanz zur Produktion, die Entmaterialisierung der Finanzmärkte. Nichtsdestoweniger ist der Kapitalismus derselbe, doch er hat sich ausgeweitet und von einem nationalen oder kolonialen Netzwerk hin zur Globalisierung verschoben.

Sie sehen die Aufgabe von Kunst darin, den jeweiligen Ort des Individuums in einer als Totalität nicht mehr darstellbaren kapitalistischen Welt zu beschreiben. Sehen Sie Werke, die dies realisieren?

Ich habe nicht von einer bloßen Positionierung des Individuums geschrieben, sondern von einem Weg, die eigene Beziehung zu diesem unvorstellbaren Gegenstand zu kartographieren, auszuarbeiten. Es gibt viele mögliche Beispiele aus den unterschiedlichen Künsten, und ich bin vielleicht nicht einmal die geeigneteste Person, über bestimmte Beispiele zu sprechen, aber ich werde Ihnen zwei geben. Ich denke, in den visuellen Künsten ereignete sich in den letzten Jahren ein gewaltiger Wechsel, weg von der Vorstellung, visuelle Kunst sei ein fixer Gegenstand, hin zu vergänglichen Installationen, also Netzen und Objekten im Raum, sowie hin zur Videokunst - einer anderen Facette des Versuchs, das System gegen sich selbst zu nutzen und das Potenzial dieser neuen Dinge auszutesten. Ich glaube, auch das Internet ist ein kultureller Raum. Hinsichtlich der Literatur ist mein Lieblingsbeispiel Cyberpunk - William Gibson und andere Autoren -, wo neue Versuche der Beschreibung dieses Cyberspace gemacht werden. Man sollte Cyberpunk nicht als realistische Beschreibung unseres Ortes begreifen, sondern als einen Versuch, Darstellungsformen zu finden, mit Hilfe derer wir unsere Lage beschreiben könnten. Doch es passieren viele andere Dinge, und es ist heutzutage, bei dieser enormen Ausdifferenzierung der Künste und den Erfindungen der Medien, sehr schwierig, auch nur eine präzise Beschreibung all dieser Vorgänge machen zu wollen.

Sie behaupten, selbst die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollten, würde oftmals als unmodern diskreditiert.

Da habe ich Oskar Lafontaine zitiert, aber ich stimme ihm zu. In älteren Gesellschaften und auch in früheren Stadien unserer eigenen Gesellschaft waren die Menschen noch in der Lage, in ihrem Denken und Schreiben oder in ihren künstlerischen Werken zumindest Vorstellungen davon zu entwerfen, wie man anders leben könnte. Ich nenne dies utopisches Denken, das heißt, den Versuch oder die Möglichkeit, alternative Lebensformen zu imaginieren. Es scheint mir, dass diese Versuche immer größeren Restriktionen unterworfen sind. Ich glaube, es ist heute für jeden schwieriger, sich eine Alternative zu diesem globalisierten Kapitalismus auszumalen, als es noch vor 100 oder 50 Jahren war. Es ist für die Leute leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen - einen Atomkrieg oder was auch immer - als das Ende des Kapitalismus. Utopisches Denken ist daher von entscheidender Bedeutung, und Marx' alte Kritik des utopischen Sozialismus ist für dieses Problem nicht von kritischer Relevanz. Der utopische Raum ist ein Ort, an dem wir versuchen, Alternativen zu entwerfen, die dann ihrerseits in der Lage sind, die Politik zu reformieren. Aber wir können keine Politik haben, außer einer sehr stückchenweisen und reformorientierten, ohne irgendeine Vorstellung von einer vollkommen anderen Lebensweise.

Haben Sie ein utopisches Projekt im Sinn?

Nun, ich denke, wir müssen negativ, bei unserem eigenen Unvermögen ansetzen. Wir müssen zeigen, bis zu welchem Grad wir uns dessen bewusst werden müssen, wie sehr uns diese Gesellschaft konditioniert und uns davon abhält, auszudenken, das andere Dinge möglich sind. Das ist der Anfang, und danach folgen andere, vielleicht positivere Dinge.

Das Gespräch führte Kathrin Bergenthal

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